MS
Multiple Sklerose
Progression bei MS – von Anfang
an
Das konventionelle Modell der Multiplen Sklerose (MS) beschreibt schubförmige und progrediente Verlaufsformen als verschiedene Phänotypen – ein Fortschreiten von Behinderung wird mit dem Auftreten von Schüben assoziiert.1 Wie klinische und Real-World-Studien jedoch zunehmend zeigen, trägt die schubunabhängige Progression (PIRA) auch bei der schubförmigen MS-Form (RMS) wesentlich zum Fortschreiten der Erkrankung bei – und das von Beginn an, obwohl sie klinisch noch nicht sichtbar ist.2-5
Ein wachsendes Verständnis der biologischen Vorgänge bei MS hat zu einem neuen Bild der Erkrankung geführt, bei dem die verschiedenen Verlaufsformen der MS, die schubförmig remittierende MS (RRMSa), die sekundär progrediente MS (SPMSb) und die primär progrediente MS (PPMS), keine separaten Krankheits-Phänotypen beschreiben, sondern verschiedene Phasen eines Kontinuums darstellen.6 In dieser modernen Sichtweise stellt die MS ein einziges Krankheitskontinuum mit einem zugrunde liegenden progressiven Krankheitsverlauf und einer hochvariablen, aufgelagerten Zunahme des Behinderungsgrads infolge einer unvollständigen Rückbildung der Schubsymptomatik dar.2 Vor diesem Hintergrund gewinnen insbesondere MS-Therapien, die auf die Verlangsamung der schubunabhängigen und damit „unsichtbaren“ Progression (PIRA) abzielen, an Bedeutung.
Für das Bild der MS als Kontinuum spricht, dass sich in allen drei Verlaufsformen die gleichen typischen pathologischen Merkmale der MS finden lassen.7,8 Es gibt also keinen qualitativen Unterschied in der Pathologie zwischen schubförmiger und progredienter MS. In quantitativer Hinsicht unterscheidet sich der Beitrag der pathologischen Prozesse und Veränderungen jedoch schon: Während im frühen Krankheitsverlauf vor allem akute inflammatorische Prozesse vorherrschen, sind mit zunehmender Erkrankungsdauer chronische inflammatorische Prozesse die Treiber von Demyelinisierung und einer fortschreitenden Neurodegeneration (Abb.1).9
In einem Vortrag auf dem virtuellen B-Zell-Forum im November 2023 verwies Prof. Kerschensteiner von der Ludwig-Maximilians-Universität München, auf die Rolle von Fresszellen bei der progredienten Pathologie. Demnach scheint die Progression der MS unter anderem von Fresszellen angetrieben zu werden, insbesondere von Makrophagen und Mikroglia.10,11 Experimentelle Arbeiten legen nahe, dass pathologische Aktivierungen dieser Fresszellen durch Signale von T- und B-Zellen verursacht werden können.11-13 Sowohl bei chronisch aktiven MS-Läsionen der weißen Substanz in der fortgeschrittenen Phase der MS als auch bei Läsionen der grauen Substanz scheint eine entzündliche Pathologie der MS zugrunde zu liegen, die in beiden Fällen aber hinter die Blut-Hirn-Schranke gewandert ist, so Prof. Kerschensteiner.
RMS wie auch PPMS werden von Expert:innen heute beide als von Beginn an fortschreitende Erkrankung verstanden.2,3,14-16 Der Erkrankungsverlauf kann dabei durch drei klinische Deskriptoren beschrieben werden (Abb. 2):
- Schub mit vollständiger Erholung1
- Schubassoziierte Verschlechterung (RAW relapse-associated worsening)1,2
- Progression unabhängig von Schubaktivität (PIRA progression independent of relapse activity)1,2
In einer im Jahr 2020 veröffentlichen Studie untersuchten Kappos et al. welchen Anteil sowohl PIRA als auch RAW zur bestätigten Behinderungsprogression (CDA; confirmed disability accumulation) bei RMS beitragen.2 Dazu wurden die gepoolten Daten der beiden klinischen Zulassungsstudien für Ocrelizumab bei RMS (OPERA I und II) analysiert:
- Die Behinderungsprogression wurde mittels klassischen EDSSd-Scores gemessen und zusätzlich durch eine Verschlechterung bei den sensitiveren Tests 9-Hole Peg Test (9HPT) und Timed 25-Foot Walk (T25FW) nach drei oder sechs Monaten bestätigt.
- Die Ergebnisse zeigten, dass in einer typischen RMS-Patientenpopulation mit einem PIRA-Anteil von 80-90 % der größte Teil der Behinderungsprogression nicht mit Schüben assoziiert war.2
Damit stehen die Resultate im Einklang mit Analysen, die den Anteil von PIRA an der Behinderungsprogression bei RMS über Studiendaten von weiteren hochwirksamen Therapien ermittelten. So ergab eine Untersuchung der schubunabhängigen EDSS-Verschlechterung im Rahmen des Beobachtungs-Studien-Programms TOP für Natalizumab über einen Zeitraum von 5-6 Jahren einen PIRA-Anteil von 66 %.17 Eine Analyse der gepoolten Daten aus den Zulassungsstudien für Ofatumumab zeigte mit einem PIRA-Anteil von 85-95 % ebenfalls, dass der größte Teil der Behinderungsprogression bei RMS-Betroffenen unabhängig von Schüben stattfand.17 Diese Daten lassen den Schluss zu, dass eine frühzeitige hocheffektive Therapie mit dem Ziel auch PIRA zu reduzieren, langfristig einen Unterschied machen kann.
Die Analyse der Daten aus OPERA I und II ergab noch eine weitere interessante Beobachtung: PIRA ließ sich zuverlässiger durch verschlechterte Ergebnisse bei den Tests 9HPT oder T25FW vorhersagen, RAW dagegen durch eine Verschlechterung des EDSS.2 Dies zeigt, wie wichtig eine Kombination von EDSS und sensitiveren Messungen ist, um die Multidimensionalität der MS abzubilden.
Wie eine Progressionsmessung im Praxisalltag aussehen kann und wie sie auch die unsichtbare MS-Progression einbezieht, referierte Dr. Rupert Knoblich.
In einer 2023 veröffentlichten retrospektiven Langzeitstudie untersuchten Tur et al. einen möglichen Zusammenhang zwischen PIRA und dem späteren Auftreten von Behinderungen.4 Dazu wurden Daten von Patient:innen analysiert, die zwischen dem 1. Januar 1994 und dem 31. Juli 2021 prospektiv in die umfassend phänotypisierte Barcelona-Kohorte von Patient:innen mit einem ersten demyelinisierenden Ereignis aufgenommen wurden.4 In der Untersuchung wurde ein PIRA-Ereignis als eine nach 6 Monaten bestätigte Behinderungsprogression (CDA) auf der EDSS-Skala während eines schubfreien Zeitraums (PFR; Period Free of Relapses) definiert.4 Für die Auswertung der Langzeitdaten erfolgte eine Einteilung in verschiedene Gruppen (PIRA vs. keine PIRA, PIRA vs. RAW sowie in die Untergruppen mit früher und später PIRA).4
Die Analysen ergaben 4:
- PIRA konnte bei einem Viertel der Patient:innen innerhalb der ersten 12 Jahre und bei fast 10 % innerhalb der ersten 5 Jahre nach Auftreten eines ersten demyelinisierenden Ereignisses beobachtet werden.
- Im Laufe der Zeit zeigten Patient:innen mit PIRA eine signifikant steilere EDSS-Anstiegsrate und wiesen ein fast 8-fach höheres Risiko auf, einen EDSS von 6,0 zu erreichen, als Patient:innen ohne PIRA.
- Darüber hinaus war das Auftreten von PIRA zu einem frühen Zeitpunkt im Krankheitsverlauf (≤ 5 Jahre) verglichen mit Patient:innen mit später PIRA, mit einem 26-fach höheren Risiko, eine schwere Behinderung zu entwickeln (EDSS ≥ 6,0) verbunden.
Die Autor:innen schlussfolgerten aus den Resultaten, dass das Auftreten von PIRA nach einem ersten demyelinisierenden Ereignis bei MS auf eine ungünstige Langzeitprognose hindeutet, insbesondere, wenn PIRA früh im Krankheitsverlauf auftritt.4
Die Erkenntnisse, dass PIRA auch bei RMS von Beginn an wesentlich zum Fortschreiten der Erkrankung beiträgt2,3,5 sowie die mit dem Auftreten von PIRA verbundene ungünstige Langzeitprognose4, haben zu einem Umdenken in der Neurologie geführt. Das Ziel einer jeden Therapie sollte sein, das Fortschreiten der MS ─ auch unabhängig von Schüben ─ möglichst frühzeitig und anhaltend zu verlangsamen. Daher ist es wichtig, möglichst früh mit einer hocheffektiven Therapie zu beginnen. Lediglich Schübe zu vermeiden, reicht nicht aus.
Wie es gelingt, schon in der Frühphase der MS-Therapie keine wertvolle Zeit zu verlieren, erfahren Sie unter
a RRMS (schubförmig remittierende Multiple Sklerose) mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung.
b SPMS (sekundär progrediente MS) = Verlaufsform, die aus einer schubförmig remittierenden MS (RRMS) hervorgeht, bei der die akut-entzündliche Aktivität in Form abgrenzbarer Schübe immer seltener wird oder ganz fehlt. Die neurodegenerativen ZNS-Veränderungen dominieren immer stärker und die Behinderung nimmt stetig zu. Wird die SPMS weiterhin von Schüben begleitet, spricht man von einer rSPMS (sekundär progrediente MS mit aufgesetzten Schüben).
c Expanded Disability Status Scale (EDSS): Ordinalskala zur Erfassung der neurologischen Defizite bzw. des Behinderungsgrades. Dieser Wert wird auf einer Skala von 0 (keine Schädigung bzw. Behinderung) bis 10 (Tod durch MS) in 20 halben Schritten angegeben. Ein wichtiger Grenzwert liegt bei 6,0. Dieser bedeutet, dass eine vorübergehende oder ständige Unterstützung (Stützen, Schiene) auf einer Seite erforderlich ist, um etwa 100 m mit oder ohne Pause zu gehen.
1. Lublin FD et al., Neurology 2014 ; 83 :278-86
2. Kappos L et al., JAMA Neurol 2020 ; 77 :1-9 (p=0,029)
3. Cree BA et al., AnnNeurol 2019; 85(5): 653−666
4. Tur et al., JAMA Neurology 2023 ; 80(2), 151–160
5. Kappos L et al., EAN 2020 ; Oral presentation O2034
6. Vollmer TL et al., Neurol Clin Pract. 2021 ; 11(4) : 342-351
7. Haider et al., J Neurol Neurosurg Psychiatry 2014 ; 85 :1386-1395
8. Haider et al., Brain 2016 Mar ;139(Pt 3) :807-15
9. Lassmann H, Cold Spring Harb Perspect Med 2018 ;8: a028936
10. Absinta M et al., Nature 2021; 597:709-714
11. Choi SR et al., Brain 2012; 135(Pt 10):2925-2937
12. Magliozzi R et al., Ann Neurol 2018; 83(4):739-755
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16. Brownlee WJ et al., Mult Scler 2017; 23:665674
17. Kappos L et al., Mult Scler 2018 ; 24 :963-973