Stille Progression

Pathomechanismen, Erfassung & Therapie

„Die schubunabhängige Progression ist der dominierende Mechanismus der Behinderungszunahme in späteren Stadien der MS. Wahrscheinlich beginnt diese aber schon in frühen MS Stadien und ist von Beginn an wichtig für das Ausmaß der bleibenden Behinderung.”

Prof. Kerschensteiner, München

Klinische und Real-World-Studien zeigen zunehmend, dass die schubunabhängige Progression (PIRA) auch bei der schubförmigen Form der Multiplen Sklerose (RMS) wesentlich zum Fortschreiten der Erkrankung beiträgt – und das von Beginn an, obwohl sie klinisch noch nicht sichtbar ist.1-4 Angesichts des Einflusses von PIRA auf den Krankheitsverlauf und die langfristige Lebensqualität der Patient:innen ist eine frühzeitige, hocheffektive Therapiestrategie von entscheidender Bedeutung.

Stille Progression bei MS – von Anfang an

Unser heutiges Verständnis der MS sieht die verschiedenen Verlaufsformen – schubförmig remittierende MS (RRMSa), sekundär progrediente MS (SPMSb) und primär progrediente MS (PPMS) – als Phasen eines Kontinuums.5 Demnach stellt die MS ein einzelnes Krankheitskontinuum dar, das durch einen fortschreitenden Verlauf und eine variable Zunahme des Behinderungsgrads aufgrund unvollständiger Rückbildung von Schubsymptomen gekennzeichnet ist.

Diese Sichtweise wird dadurch gestützt, dass sich in allen drei Verlaufsformen die gleichen pathologischen Merkmale finden.6,7 Es gibt also keinen grundlegenden Unterschied in der Pathologie zwischen schubförmiger und progredienter MS. Allerdings unterscheiden sich die quantitativen Beiträge der pathologischen Prozesse: Während im frühen Verlauf vor allem akute Entzündungen vorherrschen, treiben chronische Entzündungen mit zunehmender Erkrankungsdauer die Demyelinisierung und Neurodegeneration voran (Abb. 1).8

Abbildung 1: Pathologische Merkmale der MS über den zeitlichen Verlauf der Erkrankung

Neue Erkenntnisse zu Fresszellen bei der MS-Progression

In einem Vortrag auf dem virtuellen B-Zell-Forum im November 2023 betonte Prof. Kerschensteiner von der LMU München die Rolle von Fresszellen, insbesondere Makrophagen und Mikroglia, bei der Pathologie der MS-Progression.9,10 Experimentelle Arbeiten deuten darauf hin, dass pathologische Aktivierungen dieser Zellen durch Signale von T- und B-Zellen verursacht werden können.10-12 Sowohl bei chronisch aktiven Läsionen der weißen Substanz als auch bei Läsionen der grauen Substanz scheint eine entzündliche Pathologie vorzuliegen, die in beiden Fällen aber hinter die Blut-Hirn-Schranke gewandert ist, so der Experte.

Expert:innen betrachten heute RMS und PPMS beide als von Beginn an fortschreitende Erkrankung.1,2,13-15 Der Verlauf lässt sich durch drei klinische Deskriptoren beschreiben (Abb. 2):

  • Schub mit vollständiger Erholung16
  • Schubassoziierte Verschlechterung (RAW)1,16
  • Progression unabhängig von Schubaktivität (PIRA)1,16

Abbildung 2: Die Bedeutung von PIRA und RAW bei der Behinderungsprogression

Behinderungsprogression größtenteils unabhängig von Schüben

Eine Studie von Kappos et al. (2020) untersuchte den Beitrag von PIRA und RAW zur bestätigten Behinderungsprogression (CDA) bei RMS.1 Die Analyse gepoolter Daten aus den Ocrelizumab-Zulassungsstudien (OPERA I und II) zeigte, dass PIRA mit 80-90 % den größten Teil der Behinderungsprogression ausmacht.1 Die Behinderungsprogression wurde mittels EDSSc-Scores sowie sensitiveren Tests (9HPT, T25FW) gemessen.

Diese Ergebnisse decken sich mit Analysen aus anderen Studien mit hocheffektiven Therapien. So ergab eine Untersuchung der schubunabhängigen EDSS-Verschlechterung im Rahmen des Beobachtungs-Studien-Programms TOP für Natalizumab einen PIRA-Anteil von 66 %.17 Eine Analyse der Ofatumumab-Zulassungsstudien zeigte einen PIRA-Anteil von 85-95 %.17 Diese Daten legen nahe, dass eine frühzeitige, hocheffektive Therapie, die auch PIRA reduziert, langfristig einen Unterschied machen kann.

Verschlechtert frühe PIRA die Langzeitprognose bei MS?

Eine retrospektive Langzeitstudie aus dem Jahr 2023 untersuchte den möglichen Zusammenhang zwischen PIRA und dem späteren Auftreten von Behinderungen bei MS-Patient:innen.3

Die Analyse von Daten der umfassend phänotypisierten Barcelona-Kohorte zeigte, dass PIRA bei einem Viertel der Patient:innen innerhalb der ersten 12 Jahre nach einem ersten demyelinisierenden Ereignis auftrat, bei fast 10 % sogar innerhalb der ersten 5 Jahre.3

Patient:innen mit PIRA wiesen im Laufe der Zeit eine signifikant stärkere Zunahme des EDSS-Wertes auf und hatten ein fast 8-fach höheres Risiko, einen EDSS von 6,0 zu erreichen, als Patient:innen ohne PIRA.3

Besonders ungünstig war das Auftreten von PIRA zu einem frühen Zeitpunkt im Krankheitsverlauf (≤ 5 Jahre): Diese Patient:innen hatten im Vergleich mit Patient:innen mit später PIRA ein 26-fach höheres Risiko, eine schwere Behinderung zu entwickeln (EDSS ≥ 6,0).3

Die Autor:innen der Studie schlussfolgerten, dass PIRA nach einem ersten demyelinisierenden Ereignis auf eine ungünstige Langzeitprognose bei MS hindeutet, insbesondere bei frühem Auftreten.3

Stille Progression messen und erkennen

Erfahren Sie, wie Expert:innen eine frühzeitige Symptomerfassung und die Messung der stillen Progression im Praxisalltag angehen und welche Biomarker als belastbare Indikatoren für PIRA dienen

Video Watched Multiple sclerosis
Im Spotlight Neurologie erläuterte Dr. Knoblich wie sich Progressionsmessung sowie frühzeitige Symptomerfassung bei MS in den Praxisalltag integrieren lassen. Inklusive Video-Fallbeispiel.
MS-Progression messen und sichtbar machen

Sowohl bei RMS als auch PPMS schreitet die MS schubunabhängig fort.1-4 Bei der Beurteilung des individuellen MS-Verlaufs können bewährte Test-Sets helfen. Die Neurologin Dr. Hela-F. Petereit aus der Praxis rechts vom Rhein, Köln-Mülheim, zeigt in einer 3-teiligen Online-Fortbildungsreihe, wie die Tests standardisiert und effizient im Behandlungsalltag durchgeführt werden können.

Digitale Gesundheitslösungen: Beim aktiven Management und Monitoring von Erkrankungen spielen auch Digitale Gesundheitslösungen eine immer wichtigere Rolle. Bei MS unterstützt beispielsweise die Brisa App.

Mit dem Symbol Digit Modalities Test (SDMT) lässt sich der Grad der kognitiven Einschränkung bei MS-Patient:innen bestimmen und der Verlauf abbilden.

Videolänge 04:16 min

Der 9-Hole Peg Test (9HPT) misst die motorische und koordinative Handfunktion von MS-Patient:innen und quantifiziert die Krankheitsprogression. Dies kann insbesondere für das Monitoring von Patient:innen mit PPMS aufschlussreich sein, da hier u.a. der Erhalt der Handfunktion häufig im Fokus steht.

Videolänge 03:52 min

Der Timed 25-Foot Walk (T25FW) misst die Gehfähigkeit von MS-Patient:innen auf kurzen Strecken. Damit können motorische Veränderungen sichtbar gemacht werden.

Videolänge 02:40 min

Expertenstimmen: Biomarker & Progression

In den letzten Jahren hat die Forschung in Bezug auf die Identifizierung und Validierung von Biomarkern für das Therapiemanagement bei MS bedeutende Fortschritte erzielt. Doch wie stehen die verschiedenen Biomarker in Zusammenhang mit Krankheitsprogression und –aktivität? Erfahren Sie mehr in kurzen Videos unserer Expert:innen.

Video Watched Präzisionsmedizin
In einem Q&A und kurzen Videovorträgen diskutiert Prof. Stefan Bittner die Chancen und Grenzen der NfL-Testung bei MS.
Video Watched Präzisionsmedizin
PD Dr. Marc Pawlitzki und PD Dr. Joachim Havla diskutieren über die Biomarker NfL und OCT bei MS. Inklusive Videobeiträgen der beiden Experten.
Video Watched Präzisionsmedizin
Dr. Ahmed Abdelhak und Dr. Michelle Maiworm beleuchten die Biomarker GFAP und NfL und geben Empfehlungen für die Praxis. Inklusive Videobeiträgen der beiden Expert:innen.
Progression frühzeitig bremsen

Die Erkenntnisse, dass PIRA auch bei RMS von Beginn an wesentlich zum Fortschreiten der Erkrankung beiträgt1,2,4 sowie die mit dem Auftreten von PIRA verbundene ungünstige Langzeitprognose3, haben zu einem Umdenken in der Neurologie geführt. Das Ziel einer jeden Therapie sollte sein, das Fortschreiten der MS ─ auch unabhängig von Schüben ─ möglichst frühzeitig und anhaltend zu verlangsamen. Daher ist es wichtig, möglichst früh mit einer hocheffektiven Therapie zu beginnen. Lediglich Schübe zu vermeiden, reicht nicht aus.

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RRMS (schubförmig remittierende Multiple Sklerose) mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung.

SPMS (sekundär progrediente MS) = Verlaufsform, die aus einer schubförmig remittierenden MS (RRMS) hervorgeht, bei der die akutentzündliche Aktivität in Form abgrenzbarer Schübe immer seltener wird oder ganz fehlt. Die neurodegenerativen ZNS-Veränderungen dominieren immer stärker und die Behinderung nimmt stetig zu. Wird die SPMS weiterhin von Schüben begleitet, spricht man von einer rSPMS (sekundär progrediente MS mit aufgesetzten Schüben).

c Expanded Disability Status Scale (EDSS): Ordinalskala zur Erfassung der neurologischen Defizite bzw. des Behinderungsgrades. Dieser Wert wird auf einer Skala von 0 (keine Schädigung bzw. Behinderung) bis 10 (Tod durch MS) in 20 halben Schritten angegeben. Ein wichtiger Grenzwert liegt bei 6,0. Dieser bedeutet, dass eine vorübergehende oder ständige Unterstützung (Stützen, Schiene) auf einer Seite erforderlich ist, um etwa 100 m mit oder ohne Pause zu gehen.

1. Kappos L et al., JAMA Neurol 2020 ; 77 :1-9 (p=0,029)

2. Cree BA et al., AnnNeurol 2019; 85(5): 653−666

3. Tur et al., JAMA Neurology 2023 ; 80(2), 151–160

4. Kappos L et al., EAN 2020 ; Oral presentation O2034

5. Vollmer TL et al., Neurol Clin Pract. 2021; 11(4): 342-351

6. Haider et al., J Neurol Neurosurg Psychiatry 2014; 85:1386-1395

7. Haider et al., Brain 2016; 139(Pt 3):807-15

8. Lassmann H, Cold Spring Harb Perspect Med 2018;8: a028936

9. Absinta M et al., Nature 2021; 597:709-714

10. Choi SR et al., Brain 2012; 135(Pt 10):2925-2937

11. Magliozzi R et al., Ann Neurol 2018; 83(4):739-755

12. Magliozzi R et al., Ann Neurol 2020; 88(3):562-573

13. Rashid W et al., J Neurol Neurosurg Psychiatry 2006; 77:51–55

14. Kantarci OH et al., Ann Neurol 2016; 79:288–294

15. Brownlee WJ et al., Mult Scler 2017; 23:665674

16. Lublin FD et al., Neurology 2014 ; 83 :278-86

17. Kappos L et al., Mult Scler 2018; 24:963-973

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