MS
Multiple Sklerose
Q & A: Chancen und Grenzen der NfL-Testung
Im Spektrum potenzieller molekularer Biomarker bei Multipler Sklerose (MS) stellt die Neurofilament-Leichtkette (NfL) eine Option für eine verbesserte MS-Diagnostik dar. Im Rahmen des B-Zell-Forums im März 2023 sprachen wir mit Prof. Dr. Stefan Bittner, Neuroimmunologe und Leiter der Abteilung für Translationale Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Mainz, über die Chancen und Grenzen dieses Markers bei MS.
Neurofilamente sind neuron-spezifische zytoskelettale Strukturproteine, die aus drei Untereinheiten bestehen: schweren, mittleren und leichten Ketten. Die Neurofilament-Leichtkette (NfL) wird in Neuronen exprimiert und bei deren Schädigung oder Degeneration in die Cerebrospinalflüssigkeit (CSF) und anschließend ins Blut abgegeben.1,2
Wenn es durch Entzündungsprozesse zu neuroaxonalen Schädigungen im Gehirn bzw. ZNS kommt, kann der NfL-Wert im Liquor und Blut ansteigen.2 Die NfL kann somit als Biomarker für axonale Schädigungen verwendet werden – bei MS, aber auch bei anderen neurologischen Erkrankungen.2 Als ein Hauptbestandteil des Zytoskeletts ergeben sich jedoch noch gewisse Limitationen: Einerseits spiegeln NfL-Werte laufende entzündungsbedingte neuroaxonale Schädigungen wider und können MS-Schübe oder Krankheitsaktivität vorhersagen.2 Andererseits ist die Assoziation von NfL mit dem langfristigen klinischen Verlauf bzw. der Fähigkeit, langsam fortschreitende und diffuse neurodegenerative Schäden bei MS anzuzeigen, noch nicht vollständig geklärt.2
NfL können mithilfe hochsensitiver Analysemethoden im peripheren Blut (Plasma + Serum) akkurat gemessen werden.3 Für die klinische Routine gibt es beispielsweise die voll automatisierten cobas® integrated solutions Systeme von Roche. Auf solchen Plattformen könnte zukünftig auch NfL im Blutplasma oder -serum analysiert werden. Die Nachweisbarkeit im Blut macht NfL zu einem der besten präanalytischen Marker,3 mit dem Potenzial zur breiten Anwendung in der Praxis.
Gegenüber anderen Biomarkern hat NfL unter anderem den Vorteil einer hohen Stabilität – sowohl bei Raumtemperatur als auch in gefrorenen Blutproben.3 Auch Auftauzyklen oder Lagerzeiten beeinträchtigen die Qualität von NfL nicht. Zudem liefern die genannten NfL-Tests nur einen einzigen Zahlenwert – und sind einfacher durchzuführen als beispielsweise ein MRT oder OCT (optical coherence tomography).3
NfL-Werte korrelieren mit Myelon-Läsionen bzw. mit Prozessen, bei denen die dicken Fasertrakte beteiligt sind.4 Diese Trakte bestehen aus myelinisierten Axonen und bilden die weiße Substanz des Gehirns, welches die Kommunikation zwischen verschiedenen Gehirnregionen ermöglicht.5 Bei nicht-akuter MS ist eine chronische Entzündung der weißen Hirnsubstanz (detektiert mittels paramagnetischer Randsaum-MRT-Läsionen, PRT) mit erhöhten NfL-Werten assoziiert.6 Geringe Anstiege der NfL-Werte korrelieren auch mit einem späteren Risiko für schubunabhängige Progression (progression independant of relapse activity, PIRA) und SPMSa-Konversion.7 Dagegen ist die Korrelation von NfL-Werten mit Prozessen in der grauen Substanz, wo vor allem die Informationsverarbeitung im Gehirn stattfindet, eher gering.5
Bei MS sind, abhängig vom klinischen Kontext, Messungen im Abstand von drei Monaten sinnvoll.8
Bei NfL besteht eine gute Korrelation mit Entzündungsprozessen (während diese bei der Neurogeneration bislang eher mäßig ist).4 NfL können als Biomarker zur Beurteilung des Therapie-Ansprechens verwendet werden, und ansteigende NfL-Werte signalisieren ein erhöhtes Risiko für PIRA und damit für eine MS-Progression, z.B. bei SPMS.2,7
Die NfL-Testung ist noch keine Routinemessung – sie ist für einen Labortest noch verhältnismäßig teuer, nicht standardisiert und hat keine validierten Grenzwerte. Außerdem ist sie nicht MS spezifisch, da die NfL nicht zwischen unterschiedlichen Mechanismen axonaler Schädigungen differenziert und bei allen neurologischen Erkrankungen mit axonaler Schädigung erhöht ist.4 Zudem sind NfL-Spiegel altersabhängig, d.h. die Werte nehmen mit dem Alter zu und korrelieren mit Hirnatrophie-Raten.9
NfL werden sich – neben der MRT – als Biomarker in der Versorgung von MS-Patient:innen etablieren. Gleichzeitig bleiben der klinische Kontext, sowie Komorbiditäten essenziell für die Interpretation der NfL-Befunde. Um die Anwendung weiterhin zu optimieren, müssen prospektive Studien durchgeführt und Algorithmen entwickelt werden. Wir benötigen einen optimaleren Rahmen, um zu wissen, wann wir bei welchen Patient:innen messen – und warum? Nach meiner Einschätzung hat NfL langfristig das Potenzial, die subklinische Progression bei MS messbar und sichtbar zu machen.
Prof. Bittner, wir danken für das Gespräch.
a SPMS (sekundär progrediente MS) = Verlaufsform, die aus einer schubförmig remittierenden MS (RRMS) hervorgeht, bei der die akut-entzündliche Aktivität in Form abgrenzbarer Schübe immer seltener wird oder ganz fehlt. Die neurodegenerativen ZNS-Veränderungen dominieren immer stärker und die Behinderung nimmt stetig zu. Wird die SPMS weiterhin von Schüben begleitet, spricht man von einer rSPMS (sekundär progrediente MS mit aufgesetzten Schüben).
1. Engel S et al., Ther Adv Neurol Disord 2021; 14:17562864211051497
2. Bittner S et al., Brain 2021; 144(10): 2954-2963
3. Barro C et al., Ann Clin Transl Neurol 2020; 7(12): 2508-2523
4. Benkert P et al., The Lancet Neurology 2022: 246-257
5. Di Filippo M et al., Nat Rev Neurosci 2018; 599–609
6. Maggi P et al., Neurology 2021; 97(6): e543-e553
7. Uphaus T et al., EBioMedicine 2021; 72:103590
8. Thebault S et al., Mult Scler Relat Disord 2022; 59: 103535
9. Fitzgerald KC et al., Ann Neurol. 2022;92(4): 688-698