Women's Health in der Neuroimmunologie

Gendermedizin in der Neuroimmunologie

In der medizinischen Forschung galten Männer lange Zeit als der „Durchschnittspatient“. Doch dieser Ansatz hat zu Verzerrungen und Fehlentwicklungen geführt, mit negativen Folgen für Frauen. Die geschlechtsspezifische Medizin will das ändern.

Männlich, cis-hetero, weiß. Lange Zeit stand diese Patientenkohorte im Fokus der medizinischen Forschung. Menschen, die sich als weiblich identifizieren oder weiblich gelesen werden, waren und sind dagegen oft unterrepräsentiert.1-4 So ergab eine Auswertung von Studien aus der Kardiologie, dass nur 27 % aller Studienteilnehmer:innen Frauen waren.5 Ein ähnliches Bild zeigte sich bei Tierstudien zum Thema Schmerz: In einem Zeitraum von 10 Jahren betrafen mindestens 79 % der in einer Fachzeitschrift veröffentlichten Studien ausschließlich männliche Tiere.6

Studienergebnisse sind oft nicht auf Frauen übertragbar

Das Problem: Die Ergebnisse dieser Studien sind oft nicht übertragbar. Frauen können ein anderes Wirkungs- oder Nebenwirkungsprofil haben als Männer.7 Weibliche Patientinnen können andere Symptome vorweisen, wie beispielsweise bei einem Herzinfarkt.8 Werden aber solche geschlechtsspezifischen Unterschiede ignoriert, kann das schwerwiegende Folgen haben. So sind unerwünschte Arzneimittelwirkungen bei Frauen häufiger und schwerer als bei Männern.1,9

 

Warum der Körper von Frauen und Männern unterschiedlich reagiert, wenn es um Krankheiten und deren Behandlung geht, wird zurzeit noch erforscht. Eine Ursache für geschlechtsspezifische Unterschiede könnte im Immunsystem liegen.10 Frauen zeigen eine höhere Immunreaktivität als Männer, was zu einer größeren Widerstandsfähigkeit gegenüber Infektionskrankheiten führen könnte.10,11 Gleichzeitig könnte diese bessere Immunkompetenz Frauen andererseits auch anfälliger für die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen machen.11

Sexualhormone wirken auf das Nerven- und Immunsystem

Geschlechtsspezifische Unterschiede gibt es auch bei der Fähigkeit des Körpers, Zellen bzw. Organe vor Schäden zu schützen.10 Obwohl Frauen häufiger von neurodegenerativen Erkrankungen wie Multipler Sklerose (MS), Alzheimer und Schlaganfall betroffen sind, deuten Studien auf das Vorhandensein geschlechtsspezifischer Schutzmechanismen hin. So gibt es beispielsweise Hinweise auf eine neuroprotektive Wirkung des weiblichen Sexualhormons Östrogen.10,12,13
Sexualhormone wie Östrogen und Progesteron werden vermehrt während der Schwangerschaft ausgeschüttet, was sich wiederum auf die Immunfunktion auswirken kann.10 So reduzieren sich bei schwangeren Frauen z. B. die Symptome und Krankheitsaktivität bestimmter Autoimmunerkrankungen.10 Gut dokumentiert ist dies unter anderem für die MS, bei der die Schubrate während einer Schwangerschaft deutlich abnimmt.14

Autoimmunerkrankungen: Frauen häufiger als Männer betroffen

Bei Autoimmunerkrankungen können auch genetische Faktoren zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen beitragen.10 Im Fokus der Forschung stehen dabei unter anderem Geschlechts-Chromosomen und sogenannte Anfälligkeits-Gene.15,16 So haben Forscher:innen auf  X-Chromosomen spezifische Nukleotidsequenzen gefunden, die bei Menschen mit MS signifikant häufiger vorkommen.17 Zudem wurden bei MS-Patient:innen Gene entdeckt, die die Anfälligkeit für die Erkrankung steuern könnten.10

 

Neben der Genetik spielt auch die Umwelt eine Rolle.10 Männer und Frauen sind bestimmten Faktoren (z.B. Chemikalien, Infektionsquellen, Sonnenlicht) in unterschiedlichem Maße ausgesetzt.10 Zudem ist die physiologische Reaktion auf diese Faktoren bei den Geschlechtern verschieden.10 Insbesondere bei Autoimmunerkrankungen könnte dies zu geschlechtsspezifischen Unterschieden bezüglich Prävalenz, Schweregrad und Erkrankungsrisiko führen.10

 

Generell sind Frauen häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen als Männer.10 Bei Frauen im reproduktiven Alter sind sie die fünfthäufigste Todesursache.11 Auch hier vermutet die Wissenschaft Zusammenhänge zwischen bestimmten Autoimmunerkrankungen und weiblichen Sexualhormonen bzw. dem X-Chromosom (z. B. beim systemischen Lupus), die jedoch noch weiterer Forschung bedürfen.11,15,16

Sex und Gender beeinflussen Outcomes

Die Gendermedizin hat die Signifikanz geschlechtsspezifischer Unterschiede erkannt – nicht nur in Bezug auf Prävalenz, Entstehung und Verlauf von Autoimmun- und anderen Erkrankungen, sondern auch bezüglich der Wirksamkeit und Verträglichkeit von Therapien.18 Langsam beginnt ein Umdenken in medizinischen Kreisen, unter anderem auch, wenn es um das Verständnis von Kategorien wie Sex und Gender geht.1,19
Das biologische Geschlecht (englisch „sex“) beruht vor allem auf Faktoren wie Chromosomen, Hormonen und Geschlechtsorganen, während das soziale Geschlecht (englisch „gender“) stark kulturell definiert wird.18 Im Kontext von Gesundheit bzw. Krankheit sind beide nicht nur unabhängig voneinander wichtig, sondern sie interagieren auch im Laufe des Lebens und können somit zu unterschiedlichen Outcomes für Patient:innen führen.18

Die Zukunft liegt in der Gendermedizin

Untersuchungen zeigen, dass bei klinischen Studien vielfach noch keine Ergebnisauswertung nach Geschlechtern erfolgt.20 Im Jahr 2016 wurden deshalb die SAGER (Sex and Gender Equity in Research)-Leitlinien von einem internationalen Expert:innengremium erarbeitet.1 Ihr Ziel: Die Umsetzung von geschlechtsspezifischen Informationen im Studiendesign, bei der Datenanalyse, und bei der Interpretation der Ergebnisse von klinischen Studien.1

 

Fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung der SAGER-Leitlinien konstatierte das Gremium, dass bei der Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede wichtige Schritte in der Forschungs- und Publikationslandschaft erfolgt seien.19 Dennoch müsse noch mehr getan werden, um eine breitere Akzeptanz und Umsetzung für die genderbasierte Medizin zu gewährleisten.19 In der Gendermedizin ist die stärkere Zusammenarbeit von Forschung, Industrie und Politik notwendig, um Forschungsstandards und damit das Wohl aller Patient:innen langfristig zu verbessern.

1. Heidari S et al., Res Integr Peer Rev 2016; 1:2

2. Palmer-Ross A et al., BMJ Glob Health 2021; 6:e004997

3. Scott PE et al., J Am Coll Cardiol 2018; 71:1960–9

4. Carcel C et al., Int J Stroke 2019; 14:931–8

5. Kim ESH, Menon V. Arterioscler Thromb Vasc Biol 2009; 29:279–83

6. Greenspan JD et al., Pain 2007; 132:S26–45

7. Light KP et al., Pharmacoepidemiol Drug Saf 2006; 15:151–60

8. Greenwood BN et al., Proc Natl Acad Sci USA 2018; 115(34):8569-8574

9. Franconi F, Campesi I. Br J Pharmacol 2014; 171(3):580-594

10. Ngo ST et al., Front Neuroendocrinol 2014; 35(3):347-369

11. Zandman-Goddard G et al., Autoimmun Rev 2007; 6(6):366-372

12. Brann DW et al., Steroids 2007; 72(5):381-405

13. Azcoitia I et al., Trends Endocrinol Metab 2011; 22(12):467-473

14. Avila M et al., Eur Neurol 2018; 80(1-2):93-99

15. Syrett CM, Anguera MC. J Leukoc Biol 2019; 106(4):919-932

16. Syrett CM et al., JCI Insight 2019; 4(7):e126751

17. Borziak K, Finkelstein J. Mult Scler Relat Disord 2022; 66:104065

18. Moores G et al., BMJ Open 2022; 12:e054513

19. Peters SAE et al., BMJ Glob Health 2021; 6(11):e007853

20. Geller SE et al., Acad Med 2018; 93(4):630-635

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