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Bei Frauen mit Multipler Sklerose (MS) sind die Themen Schwangerschaft und Kinderwunsch noch mit zahlreichen Unsicherheiten und Ängsten behaftet. Beim Spotlight Neurologie im Juli 2023 in Frankfurt sprach Dr. Daniela Rau, Nervenfachärztliche Gemeinschaftspraxis Ulm, über ihre Erfahrungen aus dem klinischen Alltag, gab Tipps zum Umgang mit MS-Patient:innen mit Kinderwunsch, beleuchtete wichtige Aspekte der Beratung und Therapiewahl und stellte ein Fallbeispiel aus der eigenen Praxis vor.
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Das Wichtigste in Kürze:
Frauen mit MS können und dürfen schwanger werden und stillen. Eine Schwangerschaft sollte unter Berücksichtigung verfügbarer Therapieoptionen geplant werden.
Die Aufklärung und entsprechende Beratung seitens der Neurolog:innen rund um die Schwangerschaft hat einen positiven Einfluss auf das Patientinnenerlebnis und stärkt auch die Arzt-Patienten-Beziehung.1
Generelle Empfehlungen für gesunde Schwangere gelten auch für MS-Patientinnen.
Trotz der therapeutischen Fortschritte der letzten Jahre ist die Gesamtsituation von MS-Patientinnen mit Kinderwunsch häufig von Ängsten geprägt2:
Wird die MS an das Kind übertragen?
Gefährdet die MS-Therapie mein ungeborenes Kind?
Muss ich die MS-Therapie umstellen?
Verschlechtert sich die MS durch die Schwangerschaft?
Kann ich mein Kind ausreichend versorgen, wenn sich mein Behinderungsgrad in der Zukunft verschlimmert?
Oftmals fühlen sich Betroffene (und auch ihre Partner) vulnerabel, zu wenig informiert und von ihren behandelnden Ärzt:innen alleingelassen.2
In diesem Kontext ist die beratende Rolle von Neurolog:innen essenziell, betonte Dr. Rau.
Vor Beginn einer MS-Therapie sollten Frauen einen Schwangerschaftstest machen. Aus eigener Erfahrung riet Dr. Rau Kolleg:innen, diesen direkt vor Ort in der Praxis machen zu lassen, um „unliebsamen Überraschungen“ vorzubeugen. Da das Applikationsintervall der jeweiligen MS-Therapie berücksichtigt werden muss, sollten Patientinnen – gemeinsam mit ihren Partnern – über die notwendige Verhütung während der Therapie aufgeklärt werden. Auch Zyklus-Unregelmäßigkeiten sind nach Therapiestart möglich. „Die Patientinnen verknüpfen diese aber nicht unbedingt mit der MS-Therapie, gezieltes Nachfragen ist daher wichtig“, weiß Dr. Rau.
Besteht ein Kinderwunsch, sollte eine Schwangerschaft idealerweise gemeinsam mit den behandelnden Ärzt:innen geplant werden. Der MS-Verlauf sollte zum Schwangerschaftszeitpunkt seit möglichst 1-2 Jahren stabil sein.
Als zentrale Vertrauensperson können Neurolog:innen durch die Vermittlung positiver Botschaften und Aufklärung dabei helfen viele der oben genannten Ängste beizulegen – und Paare somit dabei unterstützen, sich für die Elternschaft zu entscheiden.1
Frauen sollten nach dem Praxisbesuch mit dem Gefühl heimgehen ‚Ich kann und darf schwanger werden‘.
Dr. Daniela Rau
„Frauen sollten nach dem Praxisbesuch mit dem Gefühl heimgehen ‚Ich kann und darf schwanger werden‘.“
Dr. Daniela Rau
Die Therapiewahl sollte in Abhängigkeit von MS-Krankheitsverlauf und -aktivität erfolgen. „Suchen Sie sich eine:n gynäkologische:n Kolleg:in, um gemeinsam in interdisziplinären Fortbildungen Ihre MS-Patientinnen mit Kinderwunsch besprechen zu können,“ empfahl Dr. Rau.
Im Gespräch mit den Patientinnen ist dabei die offene Aufklärung über passende Therapieoptionen mit Blick auf den Kinderwunsch unerlässlich.
Im folgenden Textabschnitt geht es um den Off-Label-Use von MS-Therapien, da die überwiegende Mehrzahl verlaufsmodifizierender Therapien (disease modifying therapies, DMT) derzeit nicht für die Verwendung während der Schwangerschaft bzw. Stillzeit zugelassen ist.3 Die aufgeführten Beispiele spiegeln die reale Therapie und Meinung der hier genannten Ärztin wider, basierend auf ihrer klinischen Erfahrung. Dies stellt keine Therapieempfehlung oder Diagnosehilfe seitens der Roche Pharma AG dar. Therapie und Therapieentscheidung liegen stets in der Verantwortung der behandelnden Ärzt:innen.
Obwohl die meisten DMT nicht für die Anwendung während der Schwangerschaft bzw. Stillzeit zugelassen sind,3 haben sich monoklonale Anti-CD-20-Antikörper wie z. B. Ocrelizumab als sicher erwiesen.4-7 Bei John-Cunningham-Virus (JCV) positiven Patient:innen mit Stillwunsch kann laut Dr. Rau neben Ocrelizumab auch Ofatumumab eine geeignete Therapieoption sein.7 Dies wird auch von der aktuellen DGN-Leitlinie unterstützt, die besagt, dass bei aktiver MS im Jahr vor Eintritt der Schwangerschaft oder während der Schwangerschaft die Gabe von monoklonalen Antikörpern (Natalizumab, Ocrelizumab, Rituximab, Ofatumumab)* während der Stillperiode erfolgen kann.8 Dabei ist zu beachten, dass die Therapie idealerweise erst beginnen sollte, wenn das Kolostrum ausgeschieden ist und die Muttermilch einschießt (1-2 Wochen postpartal) (vgl. Empfehlung C27).8 Während der Stillzeit ist die Gabe dann unbedenklich.7
Fallbeispiel von Dr. Rau
Patientin: 32 Jahre, Biologin, lebt in einer Partnerschaft
cMRT: geringe Läsionslast (5 Läsionen, 1 davon pontin, kein Gd+) Spinales MRT: Läsion HWK 2/3 Gd+, Läsion HWK7
Lumbalpunktion
Oliklonale Banden positiv, MR-Reaktion positiv
Akuttherapie
1 Zyklus Urbason 1g i.v. 5 Tage 1 Zyklus Urbason 2g i.v. 5 Tage
Erstvorstellung
06/23
Klinik
Latente Vorfußheberparese rechts im Fersengang
Geäußerter Kinderwunsch in 1-2 Jahren
Therapieüberlegungen
Die derzeitigen Empfehlungen der US Food and Drug Administration (FDA) und der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medicines Agency, EMA) für Schwangere und Stillende sind restriktiv und konservativ, was zu einer Untertherapie der MS führen kann.7 Insbesondere in Fällen, in denen bis zur Empfängnis Monate oder sogar Jahre vergehen, bleiben Patientinnen so lange Zeit „ungeschützt“.7
“Im vorliegenden Fall einer hochaktiven MS ist eine Therapie trotz Kinderwunsch unumgänglich“, betonte Dr. Rau.
„Das Absetzen der Therapie vor einer Schwangerschaft kann den MS-Verlauf verschlechtern und zur Behinderungsprogression beitragen. Daher muss bei der Wahl der Therapie bereits von Anfang an eine mögliche Schwangerschaft und damit einhergehende Patientinnenwünsche mitgedacht werden.“
Bei Natalizumab ist laut Dr. Rau das Absetzen der Therapie vor der Schwangerschaft keine Option – hier muss die Therapie bis zum Eintritt der 30. oder 34. Schwangerschaftswoche weitergeführt werden. Diese Empfehlung wird gestützt durch Daten, die ein hohes Rebound-Risiko belegen, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit zu schweren körperlichen Einschränkungen bei der Schwangeren führen kann.7,9-10 Bewährt hat sich, laut Dr. Rau, während der Schwangerschaft die Applikationsintervalle von Natalizumab in Abhängigkeit von der bestehenden Krankheitsaktivität auf 6-9 Wochen zu strecken. Die Entbindung sollte in einer Klinik mit Pädiatrie stattfinden, um beim Neugeborenen Trombozytopenie, Anämierisiko, Körpergewicht etc. engmaschig kontrollieren zu können.7,9
Anders verhält es sich bei Anti-CD20-Antikörpern wie Ocrelizumab: Diese sollten, abhängig von der bestehenden Krankheitsaktivität, spätestens bei bestätigter Schwangerschaft pausiert werden.7
Während der Stillphase empfiehlt Dr. Rau Anti-CD20-Antikörper wie Ocrelizumab. Die Konzentration von Ocrelizumab in der Muttermilch ist sehr gering, so dass die Gabe als sehr sicher eingestuft wird – auch aufgrund einer geringen oralen Bioverfügbarkeit.7
Generell empfiehlt sie nach der Geburt engmaschige Kontrollen alle 4 Wochen – bei Mutter und Kind. „So ist man auf der sicheren Seite,“ rät Dr. Rau.
„Jede MS-Patientin ohne sensomotorische Querschnittsymptomatik kann prinzipiell vaginal gebären, auch eine PDA ist möglich.“
Dr. Daniela Rau
„Bei Schwangeren mit MS gilt das Gleiche wie bei gesunden Schwangeren,“ erklärte Dr. Rau weiter. „Sie sollten auf Alkohol und Nikotin verzichten, auf eine gesunde Ernährung achten und genügend schlafen.“ Ebenfalls wie bei Gesunden empfahl sie die Einnahme von Folsäure 400 µg und die bevorzugt tägliche Gabe von Vitamin D (Spiegel >25 ng/ml).
Nach der Entbindung sollten die Neurolog:innen neben MS-spezifischen Aspekten auch auf Anzeichen einer postnatalen Depression achten. „Sollte ihre Patientin nicht stillen wollen oder aufgrund der MS-Aktivität nicht stillen können, kann es sein, dass durch andere Mütter psychisch Druck ausgeübt wird“, sensibilisierte Dr. Rau. „Darauf haben mich meine Patientinnen aufmerksam gemacht – fördern Sie also aktiv die mentale Gesundheit Ihrer Patientinnen.“
* ggf. Off-Label-Use
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8. Hemmer B. et al., Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2023, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie (Stand 30.11.2022). Online: https://dgn.org/leitlinien (abgerufen am 30.11.2023)
9. Hellwig K et al., JAMA Netw Open 2022; 5 (1): e2144750
10. Yeh WZ et al., Neurology 2021; 96 (24): e2989-e3002
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