MS
Multiple Sklerose
Personalisierte Medizin bei
Multipler Sklerose: Zum Greifen
nah?
Eine individuelle Behandlung mit größtmöglichem Nutzen für jede einzelne Patientin und jeden einzelnen Patienten ist das erklärte Ziel der personalisierten Medizin bei Multipler Sklerose (MS). Intensive Forschung führte bereits zum Umdenken in den Behandlungsstrategien. Die Identifizierung weiterer Biomarker und MS-Phänotypen sind die Voraussetzungen, um Personalisierung auch für diese komplexe neurologische Erkrankung umzusetzen. Digitale Biomarker könnten die nächsten Schritte beschleunigen.
MS ist eine komplexe, chronische, entzündlich-degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems mit einem inter- und intraindividuell unterschiedlichen Verlauf.1
Es liegt nahe, dass patientenspezifische Lebensumstände und multifaktorielle Zusammenhänge die Entwicklung und das Fortschreiten der MS bestimmen – so dass Betroffene von einer genau auf ihr individuelles Patienten- und Risikoprofil zugeschnittenen, personalisierten Behandlung, maßgeblich profitieren könnten. Doch fehlen nach wie vor das tiefe Verständnis der Pathogenese der MS sowie damit einhergehend robuste Biomarker für eine personalisierte Medizin – und damit scharfe Instrumente, um MS zu stoppen, zu heilen oder ganz zu verhindern.
Die Forschung hat in jüngerer Zeit interessante Ergebnisse erzielt, die ein neues Verständnis der MS begründen und zu einem Umdenken bei der am Aktivitätsgrad orientierten therapeutischen Stufen- bzw. Eskalationsstrategie geführt haben.
- Einerseits gelten die Verlaufsformen der MS (schubförmig bzw. progredient) nicht mehr als separate Krankheits-Phänotypen sondern als verschiedene Phasen eines Kontinuums – mit akut-inflammatorischen Prozessen, die frühe Stadien prägen, und chronischen Prozessen, die bei zunehmender Krankheitsdauer überwiegen.2- 5
- Andererseits gelang der Nachweis, dass die größten Schädigungen nicht zwangsläufig während der Schubphasen entstehen, sondern auch bei RMS-Patient:innen bis zu 90 Prozent der Behinderungsakkumulation schubunabhängig erfolgen.3 Der Einsatz hocheffektiver Therapien bereits zu einem möglichst frühen Zeitpunkt und auch unabhängig von der Aktivierung erwies sich als vorteilhaft3 und setzt sich seitdem mehr und mehr durch.
Auch beim Erkennen genetischer, epigenetischer, klinischer und umweltbedingter Faktoren, die in Zusammenhang mit MS wirken, gibt es Fortschritte, womit sich Türen zu einer präziseren Phänotypisierung, Prognostik und Therapie der MS öffnen lassen.
- Auf der Suche nach pathogenen Genen konnten durch genomweite Assoziationsstudien (GWAS) in der MS bereits über 200 MS-assoziierte Loci identifiziert werden.6-8 Dies stärkt die Vermutung, dass die MS nicht auf wenige genetische Defekte oder Mutationen mit großem Effekt zurückzuführen ist, sondern durch viele kleine Risikofaktoren getrieben wird, die über das Genom verteilt auftreten.
- Auch die Identifizierung des Epstein-Barr-Virus (EBV) als einen Hauptrisikofaktor für das Auftreten einer MS erweitert das Verständnis der pathogenetischen Grundlagen der MS und könnte in Zukunft möglicherweise neue Behandlungswege eröffnen.9,10
- Als prognostischer Biomarker hat sich unter anderem Neurofilament Light Chain (NfL) bewährt, dessen Werte im Blutserum mit der Läsions-Aktivität, dem Behinderungsgrad und der Hirnatrophierate bei MS korrelieren.11 Während die Bestimmung von NfL-Leveln im Serum bereits ein etablierter Marker für MS-bedingte neuroaxonale Schäden ist, gibt es mittlerweile auch erfolgsversprechende Daten zu astroglialen Markern im Serum wie dem GFAP (glial fibrillary acid protein).11
- Vielversprechend erweist sich weiterhin auch die Bestimmung des Immunglobulin(Ig)-Levels in der Cerebrospinalflüssigkeit (CSF): Erhöhte IgG- und IgM-Werte korrelieren mit einer vermehrten Behinderungsprogression.11
Mit digitalen Biomarkern drängt jetzt ein neuer Prä- und Indikatortyp in die Medizin, der insbesondere für die MS viele interessante Potenziale bietet.
- Smarte Endgeräte, Apps und Wearables ermöglichen es immer präziser und einfacher, Vitaldaten fortlaufend zu monitoren. MS-spezifische Diagnostik wie beispielsweise motorische und kognitive Funktionstests lassen sich auf solchen Plattformen für die Westentasche digitalisieren, Lebensstil- und Umfelddaten in einer bisher ungekannten Dichte erfassen.13
- Weiterhin lässt sich dokumentieren, was zwischen zwei Arztbesuchen geschieht: Das Ziel ist dabei, Rückschlüsse auf eine mögliche schleichende Progression ziehen zu können sowie die Effekte therapeutischer Interventionen viel früher zu erkennen und angemessen auszusteuern.
- Aus der Menge von Langzeitdaten, die der einzelne Patient oder die einzelne Patientin über sich zusammenträgt, lassen sich potenziell nach einiger Zeit individuelle Biomarker ableiten. Das gilt insbesondere, wenn diese smart erworbenen Daten mit den klinischen Biomarkern gepoolt werden.
Digitale Biomarker haben viel Potenzial, wenn es darum geht, eine patientenindividuelle Einsicht in den Verlauf jeder einzelnen MS zu erhalten was Schubfrequenz, -schwere und Rückbildung, Therapieeffekte und die Korrelationen mit Magnetresonanztomografie (MRT)-Aktivität, Läsionslast und -lokalisation, Fatigue-Status sowie die Verbindung zahlreicher weiterer Beobachtungspunkte betrifft.13
Mit Hilfe der digitalen Biomarker rückt die personalisierte Therapie für MS – auch über das klassische Konzept der Präzisionsmedizin hinaus – in greifbare Nähe. Die Entwicklung der digitalen Instrumente ist weit vorangeschritten. Die Datenmodelle werden mit den wachsenden Datenmengen reifen.
Entscheidend für einen patientenorientierten Therapieansatz bei MS wird die gute Zusammenarbeit von Betroffenen und Behandler:innen. Es braucht die vereinte Kraft von Ärzt:innen und Patient:innen, um die vielen Informationen entlang des zu erwartenden lebenslangen Betreuungsverhältnisses zusammenzutragen und konsequent zu nutzen.
Erste Einsätze zeigen aber, dass sich die Mühe lohnt.14,15 Digitale Biomarker kombiniert mit modernen Analyse-Verfahren können den Schlüssel liefern, mit dem wir in einem komplexen Feld die feinen Zusammenhänge zwischen den beeinflussenden Faktoren sichtbar machen und so entscheidend zur Verbesserung des Verständnisses der MS und -Therapie beitragen.
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2. Vollmer TL et al., Neurol Clin Pract. 2021; 11(4): 342-351
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5. Giovannoni G et al., Ther Adv Neurol Disord 2022; 15: 1-18
6. Giordano A et al., Neurology 2021; 96(15 Supplement) 2289
7. Cotsapas C, Mitrovic M, Clin Transl Immunol 2018; 7:e1018
8. Chitnis T, Prat A, Mult Scler 2020; 26(5):522-532
9. Bjornevik K et al., Science 2022; 375:296
10. Soldan SS, Lieberman PM, Nat Rev Microbiol 2023; 21(1):51-64
11. Ziemssen T et al.; J Neuroinflammation 2019; 16(1):272
12. Paul A. et al., Cold Spring Harb Perspect Med 2019; 9:a029058
13. Weidemann ML, Ziemssen T, DNP 2021; 22 (2)
14. Linker RA, Gold R, Nervenarzt 2021; 92, 986–995
15. Henschke et al., J Pers Med 2021; 11,791