Genderspezifische Herausforderungen von Frauen mit MS
Frauen mit Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) stehen im Verlauf ihres Lebens vor genderspezifischen Herausforderungen. Dabei spielen Fachärzt:innen eine wichtige Rolle als Therapie-Lotsen. Wir sprachen mit Prof. Dr. Kerstin Hellwig, Fachärztin für Neurologie am Klinikum der Ruhr-Universität Bochum und Leiterin des deutschsprachigen MS und Kinderwunsch Registers (DMSKW), über die Bedürfnisse dieser Frauen und wie sie optimal erfüllt werden können.
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Fast 5 % der Weltbevölkerung leidet unter einer Autoimmunerkrankung, davon sind fast 80 % Frauen.1 Die genauen Ursachen dieses genderspezifischen Ungleichgewichts sind noch unbekannt, wobei eine multifaktorielle Genese vermutet wird. Diskutiert werden unter anderem Aspekte wie X-chromosomale Inaktivierung, Umwelteinflüsse, Mikrobiom, Ernährung und exogene Hormone.2-6 Das Verhältnis zwischen Frauen und Männern bei Autoimmunerkrankungen variiert je nach Krankheit, bei der MS beträgt es 3:1.7
Familiengründungsphase mit Ängsten verbunden
Für Frauen mit MS kann die Familiengründungsphase eine besonders angstbeladene Zeit sein. Betroffene können das Gefühl haben, ihre therapeutischen Entscheidungen gegen das Kindeswohl abwägen zu müssen, oder fürchten die Vererbung ihrer Krankheit an den Nachwuchs. „Manchen Patientinnen fällt die Entscheidung für ein Kind schwer“, berichtet Prof. Hellwig. Dabei kann eine qualifizierte ärztliche Beratung während der Familienplanungsphase Frauen mit MS und Kinderwunsch bei ihrer Entscheidung unterstützen.8
Ziel: Schwangerschaft normalisieren
„Bei Frauen mit MS müssen Kinderwunsch und Schwangerschaft als wichtiger Teil dieses Lebensabschnittes berücksichtigt werden“, sagt Prof. Hellwig. Mit individueller ärztlicher Begleitung spreche nichts dagegen, dass auch Frauen mit MS schwanger werden könnten. Bei unerfülltem Kinderwunsch kann auch die künstliche Befruchtung bzw. In-Vitro-Fertilisation (IVF) eine Option sein. In einer retrospektiven Studie von 5-Jahres-Daten aus Frankreich wurde keine Erhöhung des Rückfallrisikos nach IVF bzw. hormoneller Stimulationsbehandlung festgestellt.9 „Aber wir als Ärzt:innen müssen diese Themen aktiv ansprechen und einen Plan entwerfen – insbesondere bei Patientinnen mit aggressiven Verläufen und komplexen Therapien“, erklärt Prof. Hellwig.
Ärzt:innen als Therapie-Lotsen
„Frauen mit MS brauchen Ärzt:innen, die sich im Dschungel der therapeutischen Optionen zurechtfinden“, betont die Neurologin. Die Rolle als Therapie-Lotse erstrecke sich dabei über das gesamte Leben von Patientinnen: Von der Kontrolle der Schubaktivität nach der Initialdiagnose, über die Therapiewahl rund um Schwangerschaft und Stillzeit, bis zur Begleitung durch die Zeit der hormonellen Umstellung in der Menopause. So scheinen menopausale Frauen mit MS und niedrigen Anti-Müller-Hormon-Werten z. B. anfälliger für Hirnatrophie und Behinderungen zu sein.10
Fortschritt braucht Zusammenarbeit
Trotz gradueller Fortschritte bleibt im Bereich der genderspezifischen Forschung zu Autoimmunerkrankungen und MS noch viel zu tun. „Wir benötigen nicht nur auf Patientinnen zugeschnittene individuelle Lösungen, sondern auch eine stärkere Zusammenarbeit insgesamt“, bilanziert Prof. Hellwig. „Industrie, Ärzt:innen und Patientinnen sollten alle an einem Strang ziehen, damit wir auf diesem Feld ein Stück weiterkommen.“
1. Fairweather DL et al., Am J Pathol 2008; 173(3):600-609
2. Brooks WH, Renaudineau Y. Front Genet 2015; 6:22
3. Selmi C et al., J Autoimmun 2012; 39(4):272-284
4. De Luca F, Shoenfeld Y. Clin Exp Immunol 2019; 195(1):74-85
5. Venter C et al., Nutrients 2020; 12(3):818
6. Walker SE, Clin Rev Allergy Immunol 2011; 40(1):60-65
7. Kip M et al. (Hrsg.), Weißbuch Multiple Sklerose 2016; Springer Berlin, Heidelberg
8. Alonso R et al., Mult Scler J Exp Transl Clin 2021; 7(2):20552173211025312
9. Mainguy M et al., Neurology 2022; 10:1212
10. Graves JS et al., Neurology 2018; 90(3):e254-e260
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