Women's Health in der Neuroimmunologie
Frauen mit Myasthenia gravis
Frauen erkranken häufiger an Myasthenia gravis (MG) als Männer, oft tritt die Erkrankung bereits in jungen Jahren auf. Patientinnen haben zudem häufiger seltene Antikörper-Konstellationen oder es gelingt überhaupt kein Antikörper-Nachweis – sie werden als „seronegativ“ bezeichnet. Wir sprachen mit Dr. Sarah Hoffmann, Oberärztin an der Klinik für Neurologie und stellv. Leiterin des Integrierten Myasthenie-Zentrums an der Charité, Berlin, über die besonderen Herausforderungen der MG bei Frauen.
Frauen erhalten etwa doppelt so häufig die Diagnose MG wie Männer.1 Auch das Altersverteilungsmuster unterscheidet sich: Während Männer meist in höherem Alter erkranken, zeigen Frauen ein bimodales Verteilungsmuster mit einem ersten Erkrankungsgipfel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr.2 „Meiner Erfahrung nach unterscheiden sich auch die Symptome zwischen den Geschlechtern. Männer zeigen häufiger okuläre Symptome, bei Frauen hingegen stehen öfter Extremitäten-betonte Beschwerden im Vordergrund“, so Dr. Hoffmann. Darüber hinaus sind bei Frauen im Vergleich zu Männern häufiger entweder seltene oder aber überhaupt keine Antikörper im Serum nachweisbar.3 „Vor allem seronegative Frauen durchlaufen oft eine wahre Odyssee inklusive psychosomatischer Fehldiagnosen bis sie letztlich die richtige Diagnose MG erhalten“, erklärt Dr. Hoffmann.
Ergebnisse einer deutschen Studie mit 1.600 Patient:innen zeigen überdies bei Frauen eine höhere Krankheitslast sowie mehr Einschränkungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens.4 „Hier stellt sich die Frage nach einem Zusammenhang zwischen den häufig Extremitäten-betonten Symptomen, dem häufigeren Fehlen von Antikörpern und der damit verbundenen späteren Diagnose. Vielen Patientinnen mit Extremitäten-betonter Symptomatik wird suggeriert, sie müssten sich nur ausruhen. Wenn sie dann doch einen Neurologen oder eine Neurologin aufsuchen, werden oft keine Antikörper gefunden und die Diagnose erfolgt somit verzögert. Daher wird auch die Therapie häufig verspätet eingeleitet und es kann in der Zwischenzeit zu einem Krankheitsprogress kommen. Wir wissen, dass die Krankheitsaktivität in den ersten zwei bis drei Krankheitsjahren am höchsten ist und dass eine früh eingeleitete Therapie der wichtigste Prädiktor für das Erreichen einer Remission der myasthenen Symptomatik ist“, führt Dr. Hoffmann aus. Ergebnisse einer Register-Studie aus den USA zeigen zudem bei Frauen häufiger intolerable unerwünschte Ereignisse bei einer Prednison-Therapie. Dem geschuldet war ein Aufdosieren des Kortikosteroids – und damit die Behandlung mit adäquaten Dosen – häufig nicht möglich.5
Eine weitere Herausforderung bei Frauen mit MG ist die Familienplanung. Daten einer Studie aus dem Jahr 2015 zeigen, dass etwa jede zweite Frau mit MG aufgrund ihrer Erkrankung auf Kinder verzichtete. Viele Frauen befürchteten, die Erkrankung zu vererben sowie eine höhere Fehlbildungsrate durch die Erkrankung selbst oder die Therapie. Nicht zuletzt waren sie besorgt, sich nicht ausreichend um das Kind kümmern zu können.6 „Deshalb sollte ein möglicher Kinderwunsch bei MG-Patientinnen bereits frühzeitig angesprochen werden, denn die meisten dieser Sorgen und Bedenken können ausgeräumt werden“, betont Dr. Hoffmann. Aus derselben Studie geht hervor, dass Frauen, die sich trotz ihrer Erkrankung für Kinder entschieden haben auch anderen betroffenen Patientinnen empfehlen, sich von ihrer Erkrankung nicht abhalten zu lassen, ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Entsprechende Daten zu Männern mit MG und Kinderwunsch existieren bislang nicht.
Idealerweise sollten bei Frauen mit MG vor einer Schwangerschaft die ersten zwei bis drei Erkrankungsjahre abgewartet werden. In diesem Zeitraum sollte die Erkrankung therapeutisch gut kontrolliert und wenn möglich auch eine Therapie erfolgt sein, da so sowohl das Risiko einer Exazerbation der myasthenen Symptomatik als auch das Risiko einer transienten neonatalen MG reduziert werden kann.7 „Nach dieser Zeit lassen sich auch der individuelle Krankheitsverlauf und die Krankheitsschwere besser einschätzen.8 Mit diesem Wissen können dann entsprechende Empfehlungen und Maßnahmen für eine Schwangerschaft abgeleitet werden“, empfiehlt die Expertin.
Eine Entbindung sollte in einem Krankenhaus der Maximalversorgung mit Betreuung durch Gynäkolog:innen, Neurolog:innen und Neonatolog:innen erfolgen. Für MG-Patientinnen wird eine Spontangeburt empfohlen, die frühere Empfehlung für eine primäre Sectio ist obsolet.7 Der Uterus besteht aus glatter Muskulatur, die Kontraktilität ist daher durch die Myasthenie nicht beeinträchtigt. In der Austreibungsphase spielt jedoch auch die quergestreifte Muskulatur eine wichtige Rolle.9 „Dennoch können die meisten Entbindungen ohne Sectio zu Ende geführt werden“, erläutert Dr. Hoffmann. Bei Auftreten einer Geburtsschwäche oder eines Geburtsstillstands kann Pyridostigmin mittels Perfusor verabreicht werden.7 „Wir empfehlen regelhaft zusätzlich eine Periduralanästhesie zur Schmerz- und Stressreduktion“, so die Expertin.
1. Pascuzzi RM, Bodkin CL. Neuropsychiatr Dis Treat 2022; 18:3001-3022
2. Avidan N et al., J Autoimmun 2014; 52:146-53
3. Romi F et al., Eur J Neurol 2005; 12(6):413-8
4. Lehnerer S et al., J Neurol 2022; 269(10):5688-5689
5. Lee I et al., Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2018; 5(6):e507
6. Ohlraun S et al., Muscle Nerve 2015; 52(3):371-9
7. Wiendl H et al., Diagnostik und Therapie myasthener Syndrome, S2k-Leitlinie, 2022, DGN, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 05.01.2024)
8. Thieme A, Kalischewski P. Aktuelle Neurologie 2018; 45(04):288 - 293
9. Bansal R et al., Indian J Pharmacol 2018; 50(6):302-308