MS

S2k Leitlinie der DGN und Positionspapier der MSTK

Empfehlungen zum frühen
Einsatz hocheffektiver
Therapien

Für die Diagnose und Therapie von Multipler Sklerose (MS) wurde im Mai 2021 die aktualisierte S2k-Leitlinie der DGN veröffentlicht. Darüber hinaus hat eine Gruppe von MS-Experten der Multiplen Sklerose Therapie Konsensus Gruppe (MSTKG) ein Positionspapier zur MS-Therapie vorgestellt. Ende März 2023 wurde eine erste Überarbeitung als Living Guideline veröffentlicht.1

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Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) hat die S2k-Leitlinie “Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen” im Mai 2021 online veröffentlicht.1 Die vollständig überarbeitete und erweiterte Leitlinie wurde notwendig, da die vorherige S2e-Leitlinie von 2012 nicht mehr gültig war.

 

Fast zeitgleich hat die MSTKG ihr Positionspapier „MULTIPLE SKLEROSE THERAPIE KONSENSUS GRUPPE (MSTKG): POSITIONSPAPIER ZUR VERLAUFSMODIFIZIERENDEN THERAPIE DER MULTIPLEN SKLEROSE 2021 (WHITE PAPER)“ veröffentlicht.2 Das Positionspapier ist eine Initiative von Mitgliedern des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS), des Berufsverbandes Deutscher Neurologen (BDN), sowie der DGN in Zusammenarbeit mit Vertretern aus Österreich und der Schweiz.

 

Die MSTKG beschränkt sich auf eine evidenzbasierte Darstellung der Behandlungsoptionen zur verlaufsmodifizierenden Therapie der MS. Im Unterschied dazu ist die konsensbasierte Leitlinie der DGN breiter gefasst: Sie gibt Empfehlungen zu Diagnostik, Schubtherapie, Immuntherapie und symptomatischer Therapie der MS sowie für verwandte Krankheitsbilder Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) und MOG-assoziierte Erkrankungen.

Ende März 2023 wurde eine erste Überarbeitung als Living Guideline mit den aktuellen Standards zur Diagnose, der Akuttherapie von Schüben und der prophylaktischen immunmodulatorischen Therapie der MS online veröffentlicht.1

Die Aktualisierungen beinhalten u.a. die Ergänzung von Kriterien und Definitionen (vgl. Was sind wichtige Neuerungen der DGN-Leitlinie zu Immuntherapien bei MS) und die Streichung der Empfehlung A25 (vgl. Was folgt aus der S2k-Leitlinie der DGN für die Anwendung von Ocrevus®?).1

Im Unterschied zur vorherigen S2e-Leitlinie der DGN von 2012 ist die 2021 veröffentlichte erstmals eine S2k-Leitlinie. Somit unterscheidet sie sich in der methodischen Herangehensweise gemäß den Richtlinien der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.):
Während eine S2e-Leitlinie auf Basis einer systematischen Evidenz-Recherche erarbeitet wird, basiert eine S2k-Leitlinie auf einer formalen Konsensfindung der beteiligten Leitlinienautoren.

 

Weshalb die Autoren der DGN-Leitlinie diese Vorgehensweise gewählt haben, erläutern sie folgendermaßen1: Für viele alltagsrelevante Fragen gebe es weiterhin nur wenig oder keine ausreichende Evidenz. Um auch diese praxisrelevanten Aspekte adressieren zu können, habe man sich für eine konsensbasierte S2k-Leitlinie entschieden. Dadurch konnten handlungsorientierte Empfehlungen zu vielen versorgungsrelevanten Themen gegeben werden, die auf einer Mehrheitsentscheidung der Leitlinienautoren basieren. 

Die Leitlinie weist darauf hin, dass ein früher Einsatz von Immuntherapeutika prinzipiell vorteilhaft ist: Denn je früher diese im Krankheitsverlauf eingesetzt werden, desto größer die Effekte auf die entzündlichen Vorgänge bei MS, wobei dies insbesondere auf die schubförmige Verlaufsform zutrifft.1
Demnach wird die Krankheitsaktivität in der Leitlinie als der zentrale Parameter empfohlen, nach dem sich der Einsatz von Immuntherapien bei schubförmiger MS (RMSa) richten sollte – mit der Zielsetzung, klinische sowie auch subklinisch per MRT messbare Krankheitsaktivität zu reduzieren. Dabei ermöglicht die große Bandbreite an therapeutischen Optionen eine Behandlung, die patientenindividuelle Faktoren, insbesondere den Krankheitsverlauf, berücksichtigen kann. Des Weiteren empfiehlt die Leitlinie, die zu erwartenden Effekte der Immuntherapeutika auf die Verringerung der Krankheitsaktivität mit Aspekten zur Verträglichkeit und Sicherheit abzuwägen – dazu gehört auch ggf. die Beendigung einer Therapie zu erwägen.1

Eine Neuerung in der S2k-Leitlinie der DGN ist die Einteilung der Immuntherapeutika in drei Wirksamkeitskategorien.1 Für die Kategorisierung bildeten die Effekte der jeweiligen Wirkstoffe auf die Reduktion der Schubrate, die man in den klinischen Zulassungsstudien beobachtet hat, die Grundlage. Daraus ergibt sich folgende Einteilung:

  • Wirksamkeitskategorie 1 
  • Wirksamkeitskategorie 2 
  • Wirksamkeitskategorie 3 (u.a. Ocrelizumab)

Wichtig zu wissen – 1st Line Therapien:

Die DGN-Leitlinie möchte hiermit kein Stufenschema zur Basis- und Eskalationstherapie vorgeben, sondern befürwortet bei Patient:innen mit aggressivem Krankheitsverlauf bzw. Patient:innen mit hohem Risiko für eine Behinderungsprogression ausdrücklich den frühzeitigen Einsatz hocheffektiver Therapien.1

 

In Statement A27 der Leitlinie werden die Kriterien für einen wahrscheinlich hochaktiven Verlauf der MS bei therapienaiven Patient:innen anhand folgender klinischer Charakteristika definiert:

  • wenn ein Schub zu einem schweren alltagsrelevanten Defizit nach Ausschöpfen der Schubtherapie geführt hat
  • und/oder bei schlechter Erholung von den ersten beiden Schüben
  • und/oder bei hoher Schubfrequenz
  • und/oder bei Erreichen eines EDSS ≥ 3,0 im ersten Jahr
  • und/oder bei Pyramidenbahnbeteiligung im ersten Krankheitsjahr
  • und/oder wenn zum Zeitpunkt der Diagnose folgender MRT-Befund vorliegt: ≥ 2 Kontrastmittel-aufnehmende (Gd+-)Läsionen und eine hohe T2-Läsionslast mit besonderer Gewichtung spinaler oder infratentorieller Läsionen.1

 

Das letztgenannte Kriterium soll ergänzt werden, um die Wichtigkeit von MRT Befunden für die Therapieentscheidung zu betonen.1

Die Leitliniengruppe empfiehlt bei Vorliegen eines der oben aufgeführten Kriterien, den therapienaiven Patient:innen den Beginn einer Immuntherapie mit Substanzen der Wirksamkeitskategorie 2 oder 3 (inkl. Ocrelizumab) anzubieten (Empfehlung A28).

Wichtig zu wissen – 2nd Line Therapien:

Des Weiteren stellt die DGN-Leitlinie klar, dass bei einem entzündlich aktiven Verlauf unter einer 1st Line Therapie mit Substanzen der Wirksamkeitskategorie 1 der Wechsel auf eine stärker wirksame Substanz wie Ocrelizumab erfolgen sollte (Empfehlung A32).1 Ein entzündlich aktiver Verlauf gilt laut DGN-Leitlinie Statement A31, wenn unter einer Immuntherapie

 

  • mindestens ein klinisch eindeutig objektivierbarer Schub
  • oder ein klinischer Schub und mind. eine neue MS-typische Läsion in der MRT
  • oder bei schubfreien Patient:innen zu mindestens zwei Zeitpunkten mindestens eine neue MS-typische Läsion in der MRT in einem Zeitraum von bis zu 2 Jahren
  • oder zu einem Zeitpunkt eine deutliche Zunahme der T2-Läsionslast in der MRT1

nachweisbar sind.

Da sich die Autoren der DGN-Leitlinie für eine konsensbasierte Leitlinie (S2k) entschieden haben, weisen sie in der Einführung explizit daraufhin, dass ihre Empfehlungen einen beratenden Charakter haben und diese der ärztlichen Therapiefreiheit keine neuen Grenzen setzen.1

Die DGN-Leitlinie stimmt mit dem Anwendungsgebiet von Ocrevus (Ocrelizumab) gemäß Fachinformation überein. Demnach kann Ocrevus auch weiterhin in fast jeder klinischen Situation gemäß der Zulassung eingesetzt werden, wobei insbesondere die Leitlinie folgende hervorhebt1:

 

  • Ocrevus kann in der 1st Line bei therapienaiven RMS-Patient:innen bereits bei Erfüllung eines Kriteriums für einen wahrscheinlich hochaktiven Verlauf eingesetzt werden (Empfehlung A28).
  • Ein Wechsel direkt auf Ocrevus kann bei RMS-Patient:innen mit entzündlich aktivem Verlauf unter einer Therapie der Wirksamkeitskategorie 1 in der 1st Line (Beta-Interferone einschl. Peg-Interferon, Dimethylfumarat, Glatirameroide, Teriflunomid) erfolgen (je nach Ausmaß der Krankheitsaktivität).
  • Ocrevus wird bei JCV- Antikörper-seropositiven Patient:innen als erste Wahl innerhalb der Wirkstoffkategorie 3 empfohlen.
  • Ocrevus kann bei nicht therapierten Patient:innen mit SPMS mit aufgesetzten Schüben (rSPMS) eingesetzt werden.
  • Ocrevus wird bei PPMS-Patient:innen als einzige zugelassene Therapie empfohlen.

 

Der primäre Einsatz hochaktiver Substanzen als Standard der Therapie bei allen Patient:innen in frühen Krankheitsphasen wird bereits diskutiert.1 Passend zur aktuellen Diskussion wurde die in der Vorversion enthaltene Empfehlung A25 gestrichen, die den Einsatz von Substanzen der Wirksamkeitskategorie 1 im Frühstadium der MS nahegelegt hatte - sofern kein wahrscheinlich hochaktiver Verlauf vorlag.1 Diese Anpassung zeigt, dass hocheffektive Therapien in der 1st Line mehr und mehr an Bedeutung gewinnen.

Im Positionspapier der MSTKG werden sowohl eine stufenweise Eskalationstherapie als auch eine frühzeitig hochwirksame Immuntherapie ggf. auch schon direkt nach Diagnose diskutiert.2 Welche Therapiestrategie angewandt wird, beruht einerseits auf der individuellen Abwägung des Risikos für eine Krankheitsprogression und andererseits auf der Abwägung von Risiken und Wirksamkeit verlaufsmodifizierender Therapien.

 

Zur Auswahl der Therapieoptionen sieht das Positionspapier patientenindividuelle Parameter vor. Diese beinhalten in erster Linie die Schubfrequenz, MRT-Befund (Läsionslast, Läsionslokalisation) und Rückbildung der/s Schube/Schubes, Erkrankungsaktivität sowie die Erkrankungsschwere (gemessen an klinischen sowie radiologischen Parametern).

 

Zur Frage, ob ein früher Therapiebeginn mit hocheffektiven DMTs im Vergleich zu einem späteren Beginn vorteilhaft für RMS-Patient:innen ist, sieht die MSTKG auf Basis eines Reviews der verfügbaren Evidenz einen Vorteil des Einsatzes hocheffektiver DMTs von Beginn an – mit der Einschränkung, dass Daten aus kontrollierten, prospektiven Studien zu dieser Fragestellung zum Zeitpunkt des Reviews (03.05.2021) noch nicht vorlagen. Retrospektive Registerstudien deuten darauf hin, dass bei Patient:innen mit Krankheitsaktivität der frühzeitige Einsatz der hocheffektiven im Vergleich zu den moderat wirksamen DMTs die spätere Behinderungsprogression bzw. den Übergang in eine SPMS verzögern kann.

 

Allerdings weist die MSTKG darauf hin, dass hocheffektive Therapien nicht pauschal für jede Patientin bzw. jeden Patienten geeignet sind und eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung voraussetzen. Die MSTKG empfiehlt daher, dass der Einsatz von hocheffektiven DMTs zu Beginn der Erkrankung individuell und in Abstimmung mit dem Patientenwunsch unter Berücksichtigung individueller Lebensfaktoren entschieden werden sollte.

Hier finden Sie die S2k-Leitlinie

Hier finden Sie das Positionspapier der MSTKG

a RMS (schubförmige MS) = schubförmig remittierende MS (RRMSb) und sekundär progrediente MS (SPMSc) mit aufgesetzten Schüben.

b RRMS (schubförmig remittierende Multiple Sklerose) mit aktiver Erkrankung, definiert durch klinischen Befund oder Bildgebung.

SPMS (sekundär progrediente MS) = Verlaufsform, die aus einer schubförmig remittierenden MS (RRMS) hervorgeht, bei der die akut-entzündliche Aktivität in Form abgrenzbarer Schübe immer seltener wird oder ganz fehlt. Die neurodegenerativen ZNS Veränderungen dominieren immer stärker und die Behinderung nimmt stetig zu. Wird die SPMS weiterhin von Schüben begleitet, spricht man von einer rSPMS (sekundär progrediente MS mit aufgesetzten Schüben).

1. Hemmer B. et al., Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2023, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie.
Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 11.09.2023)

2. MSTKG. Wiendl H et al., Positionspapier zur verlaufsmodifizierenden Therapie der Multiplen Sklerose 2021 (White Paper).
Online: https://osf.io/j7z8s/ (abgerufen am 11.09.2023)

1. Hemmer B. et al., Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2023, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie.
Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 11.09.2023)

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