Die Rolle von IL-6 bei einer Vielzahl von neuroimmunpathologischen Prozessen erläuterte Dr. Ilya Ayzenberg im Beitrag: IL-6 als Schlüsselzytokin bei neuroimmunologischen Erkrankungen
Schlüsselzytokin IL-6
Pathophysiologische Rolle & Therapieansätze
Immunregulatorische Netzwerke bei seltenen neuroimmunologischen Erkrankungen
Bei einem DGKN-Kongress Symposium im März 2024 sprachen unter der Leitung von Prof. Christoph Kleinschnitz, Universitätsklinikum Essen, die Referent:innen PD Dr. Joachim Havla, LMU Klinikum München, Prof. Heidrun Krämer-Best, Universitätsklinikum Gießen und Marburg, sowie Prof. Christian Geis, Universitätsklinikum Jena, über die Rolle von IL-6 bei der Pathophysiologie der seltenen Erkrankungen NMOSD, MOGAD, gMG und AE sowie deren diagnostische Herausforderungen und therapeutische Möglichkeiten.
Im Fokus des Symposiums standen 4 seltene, chronische, neuroimmunologische Krankheitsbilder: die Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD), die Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein-Antikörper-assoziierte Erkrankung (MOGAD), die generalisierte Myasthenia gravis (gMG) sowie die Autoimmune Enzephalitis (AE). „Gerade bei diesen Erkrankungen hat sich in den letzten Jahren enorm viel getan“, erläuterte Prof. Kleinschnitz – „nicht nur aus therapeutischer Sicht, sondern auch aus Sicht des pathophysiologischen Verständnisses.“ Beispielsweise konnte die zentrale Rolle des Zytokins Interleukin-6 (IL-6) und seine maßgebliche Beteiligung an der Auslösung von Autoimmunreaktionen, direkt zu Beginn neuroimmunpathologischer Signalkaskaden nachgewiesen werden.1-6 „In Abgrenzung zur klassischen B-Zell-Depletion steht mit der gezielten Modulation des IL-6-Signalweges ein weiteres, wirksames Prinzip zur Verfügung, dass sich zudem durch eine höhere Selektivität auszeichnet“, so der Experte.
Die folgenden Textabschnitte enthalten unter anderem Informationen über den Einsatz von off-label Therapien bei MOGAD, gMG und AE. Die aufgeführten Beispiele spiegeln die reale Therapie und Meinung der hier genannten Neurolog:innen wider, basierend auf ihren klinischen Erfahrungen. Dies stellt keine Therapieempfehlung oder Diagnosehilfe seitens der Roche Pharma AG dar. Therapie und Therapieentscheidung liegen stets in der Verantwortung der behandelnden Ärzt:innen.
PD Dr. Joachim Havla
München
„Beim Zytokin IL-6 sprechen wir über einen wahren „Tausendsassa“. Mit dem Therapieansatz einer IL-6-Rezeptor-Blockade könnte man daher möglicherweise mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen.“
NMOSD: Klinisches Erscheinungsbild, Pathophysiologie & Therapie
„Das Erkrankungsbild der NMOSD wird überwiegend durch Antikörper (Ak) gegen das Wasserkanalprotein Aquaporin-4 (AQP4) der Astrozytenfortsätzen verursacht7“, beschrieb PD Dr. Havla die seltene Autoantikörper-vermittelte Erkrankung. Anders als bei der Multiplen Sklerose (MS) zeige sich jedoch ein überwiegend schubförmiger Verlauf und eine damit verbundene schubassoziierte Akkumulation der Behinderung.8-10 Mit einer effektiven Schubprophylaxe könne man weitere Behinderung bei NMOSD verhindern, so der Experte.
Als häufigste Symptome der NMOSD beschrieb PD Dr. Havla eine akute, langstreckige Myelitis und typischerweise bilaterale Optikusneuritis.11
Weitere Informationen zum Krankheitsbild, der Pathogenese und Diagnose der NMOSD erhalten Sie hier
NMOSD: Pathophysiologie & die Rolle von IL-6
Abb. 1: IL-6 gilt als zentraler Vermittler bei der Entstehung von NMOSD1,12-22
Mod. nach Fujihara K et al., Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm 2020; 7:e841
Als Gründe für die therapeutische Ausrichtung auf den IL-6-Rezeptor(R) nannte PD Dr. Havla eine zentrale Rolle von IL-6 in der Pathophysiologie der NMOSD.1,12-22
Eine Beteilung von IL-6 an pathogenen Prozessen findet
- in der Aktivierung der Autoimmun-Kaskade
- im zentralen Nervensystem (ZNS), bei der Schädigung der Astrozyten und
- in der Störung der Blut-Hirn-Schranke
statt (siehe Abb. 1)
„Auch während eines Schubs können erhöhte Serum-IL-6-Konzentrationen bei NMOSD-Patient:innen gemessen werden23,24“, erläutert PD Dr. Havla und ergänzte: „Je höher der IL-6-Spiegel im Liquor, desto schlechter zeigte sich die Erholung nach einem Schub.25“
NMOSD-Therapie mit dem IL-6-R-Blocker Satralizumab
„Anders als andere IL-6-R-Blocker besitzt Satralizumab einen Recycling-Mechanismus, der ein mehrfaches Binden an den IL-6-R ermöglicht26,27“, so der Experte.
Mehr Informationen zum Wirkmechanismus von Satralizumab
In den beiden Zulassungsstudien SAkuraStar und SAkuraSky reduzierte Satralizumab sowohl als Monotherapie (SAkuraStar) als auch in Kombination mit Immunsuppressiva (SAkuraSky) das Schubrisiko bei Patient:innen mit AQP4-IgG-seropositiver (AQP4-IgG+) NMOSD signifikant und anhaltend.28,29
MOGAD: Klinisches Erscheinungsbild, Pathophysiologie & Therapie
„Die Bildung von MOG-IgG führt zu einem Krankheitsbild, dass sich immunpathogenetisch wesentlich von der NMOSD unterscheidet“ begann PD Dr. Havla seine Präsentation zu MOGAD und fuhr fort „bei MOGAD kommt es, ähnlich wie bei der MS, zu einer Demyelinisierung, denn im Gegensatz zu AQP4 ist MOG kein astrozytäres Protein, sondern wird auf der Oberfläche der Oligodendrozyten exprimiert.30,31“
Die Symptome bei MOGAD sind vielfältig und stark altersabhängig.32 „Bei Erwachsenen sind die primären klinischen Manifestationen überwiegend eine Optikusneuritis oder eine Myelitis, allerdings sind auch andere Manifestationen möglich32“, so der Experte. „Zudem kann der Verlauf monophasisch oder schubförmig sein.32“
MOGAD: Pathophysiologie & die Rolle von IL-6
Ähnlich wie bei der NMOSD spielt aber auch bei der MOGAD IL-6 pathophysiologisch eine zentrale Rolle. Ein Hinweis, dass IL-6 auch an den neuroimmunpathologischen Prozessen bei MOGAD beteiligt ist, findet sich beim Betrachten der IL-6-Spiegel im Liquor während eines Schubs: "Auch bei MOGAD sind die IL-6-Spiegel erhöht4“, erläuterte PD Dr. Havla.
Aktuelle Therapielandschaft bei MOGAD
Aufgrund des vielgestaltigen Verlaufs von MOGAD wies PD Dr. Havla auf die unterschiedlichen Meinungen zu den Fragen hin, ob, wie und wann MOGAD zu therapieren sei und fügte hinzu „Für MOGAD ist, im Vergleich zur NMOSD, aktuell noch keine Therapie zugelassen, aber Einzelfall-Beobachtungen lieferten bereits vielversprechende Daten zum Einsatz eines IL-6-R-Blockers.33-36“
Zum Abschluss stellte er die laufende klinische Phase-III-Studie METEOROID37 zur Wirksamkeit und Sicherheit des IL-6-R-Blockers Satralizumab bei MOGAD-Patient:innen vor und ergänzte: „Eine IL-6-R-Blockade mit Satralizumab stellt möglicherweise auch bei MOGAD eine Therapieoption dar, man könnte daher mit diesem Therapieansatz gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“
Prof. Heidrun Krämer-Best
Gießen
„Die Myasthenie ist keine rein funktionelle Erkrankung. Durch die Aktivierung des Komplementsystems kommt es mit der Zeit auch zu strukturellen Schäden.“
gMG: Klinisches Erscheinungsbild, Pathophysiologie & Therapie
„Die gMG gehört zu den autoimmun-vermittelten Erkrankungen mit Antikörpern gegen Proteine der neuromuskulären Endplatte", begann Prof. Krämer-Best ihren Vortrag und erläuterte:
„Bei 80 % der Patient:innen finden sich Ak gegen den Acetylcholin-Rezeptor (ACh-R-Ak), bei ca. 1–10 % lassen sich Ak gegen die muskelspezifische Rezeptor-Tyrosinkinase (MuSK-Ak) nachweisen und 10–15 % der Patient:innen sind seronegativ.38,39“
„Die Myasthenie ist keine rein funktionelle Erkrankung, sondern durch die Aktivierung des Komplementsystems kommt es im Bereich der motorischen Endplatte auch zu strukturellen Schädigungen. Dies erschwert mit der Zeit ein Ansprechen auf Therapien“, so die Expertin.
„Ein typisches Kardinalsymptom der gMG ist die belastungs- und tageszeitabhängige Muskelschwäche“, informierte Prof. Krämer-Best. Daneben gibt es eine Reihe weiterer Myasthenie-spezifischer Symptome wie Doppelbilder, Ptosis, Kau- und Schluckbeschwerden, Dyspnoe und auch nicht-motorische Symptome wie beispielsweise Fatigue.40
gMG: Pathophysiologie & die Rolle von IL-6
Studien weisen darauf hin, dass durch eine gezielte Blockade des IL-6-R eine frühzeitige Unterdrückung der nachgeschalteten immunpathologischen Prozesse vermutlich direkt zu Beginn der Signalkaskade erreicht werden kann.41-43 Unter anderem erwies sich in tierexperimentellen Studien mit Ratten der Einsatz eines IL-6-R-Blockers insbesondere in der akuten Phase der Erkrankung als wirksam.44
Aktuelle Therapielandschaft bei gMG
Zum Abschluss gab die Expertin einen Überblick über die aktuelle Therapielandschaft und betonte, dass mit Erscheinen der aktualisierten Leitlinie in 2023 die Beurteilung des Erkrankungsverlaufs sowie die Bestimmung der Krankheitsaktivität zunehmend an Bedeutung gewinnen.40
„Die großen Entwicklungen der letzten Jahre bieten uns in Zukunft mehr Möglichkeiten gMG-Patient:innen leitliniengerecht und individuell zu therapieren, um die Krankheitslast so weit wie möglich zu reduzieren.“
Prof. Christian
Geis
Jena
„Die gute Nachricht ist, die AE ist grundsätzlich therapierbar. Die schlechte Nachricht ist, es dauert häufig sehr lange und die Einleitung einer Therapie muss rechtzeitig erfolgen.“
AE: Klinisches Erscheinungsbild, Pathophysiologie & Therapie
Unter dem Begriff AE sind autoimmune, Ak-vermittelte Synaptopathien zusammengefasst. „Erst in den letzten 15 Jahren wurden eine Vielzahl von Auto-Ak gegen synaptische Proteine identifiziert, die jeweils ursächlich für einen eigenen Subtyp des Erkrankungsspektrums sind“, ordnete Prof. Geis die AE ein. Die beiden häufigsten Formen dieser neuen Erkrankungsgruppe sind jedoch die anti-NMDA-R und die anti-LGI1 Enzephalitis, so der Experte.
„Zu Beginn einer NMDA-R Enzephalitis entwickeln sich psychiatrische und psychotische Symptome, gefolgt von z. T. schwerwiegenden und zum Teil protrahierten neurologischen Symptomen45,46“ beschrieb Prof. Geis die Entwicklung der Symptome über die Zeit. Zur diagnostischen Abgrenzung dienen als Richtlinie die sogenannten Graus-Kriterien sowie der Ak Nachweis im Liquor bei der NMDA Rezeptor Enzephalitis.47
AE: Pathophysiologie & die Rolle von IL-6
Auch bei den autoimmunen Enzephalitiden gibt es Evidenz, dass IL-6 eine zentrale Rolle spielt: So ist IL-6 eines der am höchsten exprimierten Zytokine im Liquor von Enzephalitis-Patient:innen mit refraktären, repetitiven partiellen Anfällen (AERRPS). „Auch im Liquor von Patient:innen mit anti-NMDA-R AE fanden sich, verglichen mit einer Kontrollgruppe, erhöhte IL-6-Konzentrationen6,48“, führte Prof. Geis aus. Zudem konnte der Einsatz eines IL-6-R-Blockers in einer unkontrollierten Beobachtungsstudie mit positiven Behandlungseffekten in Verbindung gebracht werden.49
Aktuelle Therapielandschaft bei AE
Für die Behandlung von AE gibt es zurzeit keine zugelassenen Therapien. „Dennoch hat sich ein Therapieregime etabliert, das in der 1st-Line u.a. die Gabe von Methylprednisolon* oder intravenösen Immunglobulinen* umfasst. In der 2nd-Line kommen häufig Rituximab* oder alternativ der IL-6-R-Blocker Tocilizumab* zum Einsatz“, erklärte Prof. Geis.
Zum Abschluss gab Prof. Geis einen Studienüberblick mit Fokus auf zwei laufende, klinische Phase-III-Studien:
- Die international rekrutierende Studie CIELO50 zur Wirksamkeit und Sicherheit des IL-6-R-Blockers Satralizumab bei Patient:innen mit anti-NMDA-R oder anti-LGI1 AE.
- Die in Deutschland rekrutierende Studie GENERATE-BOOST51 zur Wirksamkeit und Sicherheit des Proteasom-Inhibitors Bortezomib bei Patient:innen mit schwerer AE – unter Studienleitung von Prof. Geis.