Thorakale Onkologie

 

Perspektivwechsel: Als das
Immunsystem seine rosarote
Brille verlor

Kasuistiken kennen Sie zur Genüge? Eine wie diese sicherlich nicht! In unserem Patientenfall schildern wir nicht nur die leitliniengerechte Diagnostik und Therapie beim operablen NSCLC, sondern nehmen Sie auch mit in die Welt einer Patientin. Die medizinische Perspektive und Rationale der Therapie mit Tecentriq im adjuvanten Setting schildert der Onkologe Dr. Albrecht zusammen mit einem kurzweiligen Refresher zum Thema Testung und molekulare Wirkmechanismen der Krebsimmuntherapie.

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Szene I Patientenzimmer, Franziska Decker* im Bett

(Patientin, Franziska Decker) Unbekannte Gesichter über mir, ein Gerät piept leise im Hintergrund, ein Krankenhausbett. Es ging verdammt schnell. Eigentlich fahre ich die Strecke fast jeden Tag, aber heute Abend lag nach dem Gewitter ein Ast auf dem Weg. Mein Flug über den Fahrradlenker muss spektakulär ausgesehen haben. Meine Brust schmerzt ganz schön. Wahrscheinlich nur eine gebrochene Rippe, ich wurde erst einmal geröntgt. Der Helm ist hinüber, hat aber Schlimmeres verhindert. Die Tür geht auf. Die Ärztin von der Notaufnahme und ein weiterer Arzt kommen herein.

 

„Frau Decker, wie vermutet, sind zwei Rippen gebrochen. Es gibt aber keine weiteren Verletzungen, die vom Unfall herrühren.“ Unsicherer Blick, kurze Pause, bevor die Ärztin noch einmal ansetzt. „Frau Decker, ich habe meinen Kollegen Dr. Albrecht* mitgebracht. Leider gab es eine Auffälligkeit im CT. Dr. Albrecht ist ein Kollege aus der Inneren Abteilung.“ Dr. Albrecht sieht mich an. „Frau Decker, mein Name ist Albrecht, ich grüße Sie. Wir haben nebenbefundlich auf der CT-Aufnahme einen Rundherd gesehen, also eine Gewebeanreicherung, die da so erstmal nicht hingehört. Bei solchen Befunden muss man auch immer an einen bösartigen Tumor denken, also an eine Krebserkrankung. Dem sollten wir unbedingt nachgehen. Wir führen in den kommenden Tagen noch weitere Untersuchungen durch, um den noch unklaren Befund abzuklären. Dazu gehören insbesondere eine Lungenspiegelung - eine Bronchoskopie, und gegebenenfalls weitere Bildgebungen, wie ein MRT vom Kopf oder weitere CT-Untersuchungen.“

 

Ein Tumor ist das Einzige, was ich verstehe. „Nora und ich schmieden seit kurzem Zukunftspläne. Wir wollen doch eine Familie gründen! Und jetzt? Jetzt wächst da etwas in mir, das eigentlich nicht zu mir gehört. Ein Eindringling in meinem Körper. Und ich habe es nicht bemerkt?“, platzt es aus mir heraus.

Szene II Arztzimmer, Dr. Albrecht am Rechner

(Onkologe, Dr. Albrecht) Die Ergebnisse der Scans und der endoskopischen Abklärung von Frau Decker sind zurück. Keine weiteren Auffälligkeiten neben dem Herd in der Lunge, einem Adenokarzinom im Stadium cT1N1M0, Stadium IIB, ein frühes Stadium also – prinzipiell operabel. Erst einmal eine gute Nachricht… Allerdings…

 

Zwar befinden wir uns im operablen Stadium, dennoch sollten wir realistisch bleiben: Etwa jede zweite Patient:in erfährt einen Krankheitsrückfall.1 Nur 53 % der Patient:innen im Stadium IIB sind nach 5 Jahren noch am Leben – trotz R0-Resektion.2 Wir könnten eine adjuvante Chemotherapie einsetzen, aber nur etwa 4 von 100 Patient:innen profitieren langfristig davon…3 Darüber hinaus haben wir die Möglichkeit Immun- oder auch zielgerichtete Substanzen in der weiteren Adjuvanz einzusetzen. Für Therapiewahl und -erfolg werden Marker wie PD-L1, EGFR und ALK auch in den frühen Stadien immer entscheidender. Eine Testung auf die genannten Marker leite ich auf jeden Fall ein. Nächste Woche im Tumorboard liegen die Ergebnisse bestimmt schon vor und ich kann mit der Chirurgie, Pathologie und Strahlentherapie das gemeinsame Vorgehen festlegen.

 

Während sich Dr. Albrecht auf das gemeinsame Tumorboard in wenigen Tagen vorbereitet, setzt der Tumor in Franziskas Lunge bereits alle Hebel in Bewegung, um sein Überleben zu sichern. Er bedient sich dazu verschiedener Mechanismen. Er tarnt sich zum einen, indem er sich für das Immunsystem unsichtbar macht. Dazu nutzt der Tumor PD-L1, den Liganden des Immun-Checkpoints PD-1 und des Rezeptors B7.1. Der Tumor selbst fährt die PD-L1-Expression hoch und dockt an die beiden Rezeptoren auf den T-Zellen an. Die T-Zellen sind im Grunde sehr aufmerksame und zerstörerische Zellen des Immunsystems. Doch diese Bindung setzt ihnen eine rosarote Brille auf und ein Angriff wird verhindert.4-7

 

Nur: Dabei bleibt es nicht. Neben dem schnellen Wachstum des Primarius programmiert der Tumor einzelne Zellen um, damit sie sich absiedeln und über die Blut- und Lymphbahn invasiv verbreiten. Diese abtrünnigen Zellen teilen sich und bilden Mikrometastasen. Das große Ziel des Tumors: Kolonien in anderen Organen wie der Leber, dem Gehirn oder Knochen zu bilden.8 Eine große Herausforderung für die behandelnden Ärzt:innen: Die Mikrometastasen sind für die lokal agierende Chirurgie nicht sichtbar – und entgehen auch den Bildgebungsverfahren. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit und den Tumor…

Szene III, Franziska und Nora Decker zu Hause

(Patientin, Franziska Decker) „Diese Ungewissheit, wie es weitergeht, ist für mich kaum auszuhalten. Ich mache mir solche Sorgen um dich!“, sagt Nora. Sie sagt mir das fast täglich, seit dem Unfall. Ich bin einen Tag nach der Bronchoskopie entlassen worden. Auch mich macht die Situation fertig. Aber ich versuche hoffnungsvoll zu sein, für uns beide. Doch auch mir gehen langsam die Kräfte aus. Ich horche immer wieder in mich rein, versuche etwas zu erspüren von diesem Etwas, das in meiner Brust sitzt… „Können wir das Thema heute zur Seite legen, Nora? Morgen erfahren wir, was die Biopsie ergeben hat, und können mit dem Arzt sprechen.“

Szene IV, Arztzimmer Dr. Albrecht und Nora Decker

(Onkologe, Dr. Albrecht) „Hallo Frau Decker. Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Die schlechte zuerst: Ja, wir haben die Gewissheit – es handelt sich um Lungenkrebs. Die gute ist aber: Der Tumor ist in einem frühen Stadium, das heißt er ist lokal begrenzt und wir können ihn operativ entfernen. Das bedeutet, dass wir klar das Therapieziel der Heilung verfolgen! Der Tumor liegt so, dass unsere Chirurgie ihn gut operieren kann. Ich habe bereits einen Termin bei meiner Kollegin vereinbart. Das allein…“, Frau Decker unterbricht mich. „Das Ding muss so schnell wie möglich raus aus meinem Körper. Zu wissen, dass da etwas in mir wuchert, macht mich verrückt. Das heißt also, nach der Operation kommt der Tumor nicht mehr zurück?“, Frau Decker blickt mich hoffnungsvoll an. „Hören Sie, Frau Decker, diese Erkrankung ist tückisch. Wir wissen, dass es in Ihrem Stadium bei einigen Betroffenen leider trotz kompletter Entfernung des Tumors zu einem Krankheitsrückfall kommt.“ Stille. „Dahinter stecken Mikrometastasen, die wir auch mit bester Bildgebung leider nicht sichtbar machen können. Nach Erhalt der Ergebnisse nach Operation kann es daher sein, dass ich empfehlen werde, dass weitere Therapiemaßnahmen angeschlossen werden sollten. Dafür haben wir die gewonnen Tumorprobe schon sehr genau untersucht. In der Molekulargenetik haben wir keine relevanten genetischen Veränderungen gefunden.

 

Ihr Tumor weist aber viel von einem bestimmten Marker auf, der einen erheblichen Benefit durch eine sogenannte Krebsimmuntherapie vermuten lässt - als weitere Behandlung nach OP und Chemotherapie.9 Wir wissen, dass eine Chemotherapie herausfordernd ist.9 Die Krebsimmuntherapie ist in der Regel gut verträglich und halbiert Ihr Risiko, dass der Krebs wiederkommt10“, kläre ich die Patientin auf. „Krebsimmuntherapie… Was…“, setzt Frau Decker an.

Ja – Krebsimmuntherapie, wie funktioniert sie genau? Vereinfacht gesagt ist sie ein Boost der körpereigenen Abwehr der Krebspatient:innen gegen Tumorzellen. Der Wirkstoff Atezolizumab ist ein Checkpoint-Inhibitor, der in primär operablen Stadien des nicht-kleinzelligen Lungenkarzinoms eingesetzt wird.9 Wichtig ist, dass die Tumorzellen eine hohe PD-L1-Expression von mindestens 50 % aufweisen, um Atezolizumab einsetzen zu können. Daran bindet Atezolizumab spezifisch und unterbricht die inhibitorische Bindung der Tumor- an die T-Zellen.5,11-13

Weg ist sie, die rosarote Brille! Tumorzellen werden wieder als fremd erkannt und angegriffen, der Blick für die Realität wieder geschärft. Atezolizumab wirkt zudem in den Lymphknoten: Hier werden die T-Zellen auf Tumorantigene aufmerksam gemacht und nach dem Priming in die Peripherie geschickt, um die fremden Zellen aufzusuchen und zu zerstören.4,14 Atezolizumab wird im Anschluss an die Chemotherapie verabreicht, die bereits viele Tumorzellen beseitigt und so zur Freisetzung von Tumorantigenen führt.15 Doch manche Tumorzellen sind resistent gegenüber der Chemotherapie – und diese knöpfen sich die Krebsimmuntherapie-geboosteten T-Zellen vor.16

 

Atezolizumab ist besonders erfolgreich darin, Fernmetastasen zu verhindern.10 Das ist von besonderer Bedeutung, denn treten Fernrezidive auf, bedeutet es für die Betroffenen häufig, dass die Chance auf Heilung vertan ist. Der Effekt von Atezolizumab macht sich im krankheitsfreien und Gesamtüberleben deutlich bemerkbar.10,17

 

Nun – jede erfolgreiche Therapie hat bekanntlich auch ihre Nebenwirkung. Im Vergleich zur Chemotherapie sind die von Atezolizumab jedoch in der Regel milder, und zuweilen gut handhabbar.18

Szene V, Zuhause bei den Deckers, 1 Jahr später

(Perspektive von außen) Franziska Decker und ihre schwangere Frau Nora steigen gerade ins Auto. Die OP vor einem Jahr war erfolgreich, der Tumor wurde restlos entfernt. Frau Decker ist schnell wieder zu Kräften gekommen, die anschließende Chemotherapie hat sie überwunden. Seit einigen Monaten bekommt sie bereits die Krebsimmuntherapie. Heute allerdings geht der gemeinsame Ausflug zur Gynäkologin. Sie haben sich daran gewöhnt, sich zu den Arztterminen zu begleiten. Zur Infusion wird es nur noch wenige Mal gehen, dann ist ein Jahr um. Dafür kommen Noras Besuche bei der Hebamme neu dazu. Gewiss, der Alltag ist ein anderer seit der Diagnose. Doch was beiden bewusster ist als je zuvor: Das gemeinsame Leben gilt es wertzuschätzen.

* Die Patientin, die beteiligten Ärzte sowie ihre Namen sind frei erfunden

Herzlichen Dank an Dr. Stratmann für den Input zur Arztperspektive.
© SciVisTo - scientific visualization tools, Roche

1. Uramoto H, Tanaka F. Transl Lung Cancer Res. 2014;3(4):242-249.

2. Goldstraw P, et al. J Thorac Oncol 2016; 11 (1): 39-51.

3. Artal Cortés Á et al. Transl Lung Cancer Res 2015; 4(2):191-197.

4. Chen DS et al. Clin Cancer Res 2012; 18(24):6580-7.

5. Keir ME et al. Annu Rev Immunol 2008; 26:677-704.

6. Pardoll DM. Nat Rev Cancer 2012; 12(4):252-64.

7. Sznol M et al. Clin Cancer Res 2013; 19(5):1021-34.

8. Niu FY et al. BMC Cancer 2016;16(1):1-6.

9. Fachinformation Tecentriq®, aktueller Stand.

10. Felip E. ELCC 2022, Oral Presentation, Abstract 80O.

11.  Herbst RS et al. Nature 2014; 515(7528):563-7.

12. Yang J et al. J Immunol 2011; 187(3):1113-9.

13. Herbst RS et al. ASCO 2013; Abstract 3000.

14. Butte MJ et al. Immunity 2007; 27(1):111-22.

15. Shukla N, et al. Lung Cancer (Auckl) 2021; 12: 51–60.

16. Robert C. Nat Med 2018; 24(11):1645-1648.

17. Felip E. WCLC 2022, Oral Presentation PL03.09.

18. Wakelee HA et al. J Clin Oncol 2021; 39(suppl15): 8500.

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