Zukunft der Onkologie

„Wir werden an den Punkt einer selbstlernenden Medizin kommen“

Die Auswertung großer Datensätze ist ein Motor des medizinischen Fortschritts. Was wir von Big Data in der Medizin noch erwarten können, skizzieren Dr. Benedikt Westphalen von der LMU München und Dr. Katja Janssen von Roche im Interview.

Benedikt Westphalen hat an der Universität Hamburg promoviert und ist ärztlicher Leiter der Präzisionsonkologie am Comprehensive Cancer Center München LMU.

Katja Janssen hat an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Fachbereich Biologie promoviert und arbeitet als Personalised Healthcare Implementation Lead bei der Roche Pharma AG.

Die Corona-Pandemie hat die Bedeutung von Vernetzung und Informationsaustausch in der Medizin unterstrichen. Dass in Rekordzeit Impfstoffe gegen den Erreger entwickelt werden konnten, lag nicht zuletzt an der Bereitschaft zum umfassenden Datenaustausch zwischen Medizinern, Pharmakologen und Funktionsträgern der Gesundheitssysteme.

 

Könnten wir ähnliche Fortschritte auch in anderen Bereichen der Medizin erwarten, wenn die Rahmenbedingungen ähnlich wären?

 

Die Corona-Pandemie hat die Bedeutung von Vernetzung und Informationsaustausch in der Medizin unterstrichen. Dass in Rekordzeit Impfstoffe gegen den Erreger entwickelt werden konnten, lag nicht zuletzt an der Bereitschaft zum umfassenden Datenaustausch zwischen Medizinern, Pharmakologen und Funktionsträgern der Gesundheitssysteme.

 

Könnten wir ähnliche Fortschritte auch in anderen Bereichen der Medizin erwarten, wenn die Rahmenbedingungen ähnlich wären?

 

Westphalen: Ich finde es eher erschreckend, dass es die Corona-Pandemie gebraucht hat, um so einen rapiden und koordinierten medizinischen Fortschritt möglich zu machen. Schließlich haben wir heute noch mit etlichen Krankheiten zu kämpfen, die Jahr für Jahr hunderttausende Leben kosten – zum Beispiel bösartige Erkrankungen mit ca. 230.000 Todesfällen jährlich allein in Deutschland. Medizinische Problemfelder mit vergleichbarem Ausmaß hatten wir also grundsätzlich schon vor der Pandemie. Dementsprechend würde ich mir wünschen, dass wir auch andere medizinische Probleme in ähnlicher Weise wie bei Corona angehen würden.

 

Warum brauchte es erst eine Pandemie, um eine solche Entwicklung zu ermöglichen?

 

Westphalen: Vielleicht, weil Corona buchstäblich jeden Menschen getroffen hat – sei es als Erkrankter, als Freund oder Verwandter von Infizierten oder als Bürger, der von den behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie betroffen ist. Das hat die Bereitschaft zur umfassenden Zusammenarbeit, zu einer All-hands-on-deck-Strategie massiv befördert. Ich bin nur, wie gesagt, erstaunt, dass wir das bei anderen Erkrankungen, etwa Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen, welche die Menschen jedes Jahr schwer belasten, so noch nicht geschafft haben. Die Tools dafür stünden uns ja prinzipiell zur Verfügung.

 

Spielt dabei auch eine gewisse Fragmentierung von Gesundheitsdaten hierzulande eine Rolle? Beispiel Onkologie: Hier werden im Lauf der Behandlung eine Vielzahl medizinischer Daten gesammelt, die aber oft fragmentiert an vielen Orten gespeichert werden. Entsprechend hoch ist der Aufwand, wenn man diese Daten in ihrer Gesamtheit nutzbar machen möchte.

 

Janssen: Das ist eine von mehreren Herausforderungen, vor denen wir aktuell stehen. Eine andere ist, dass die Daten oft nicht die gleiche Sprache sprechen – also das, was in einem System etwa für einen bestimmten Blutwert oder einen Biomarker steht, kann in einem anderen System ganz anders bezeichnet werden. Dann stellt sich natürlich auch das Problem der Vollständigkeit, wenn verschiedene Praxen, Krankenhäuser oder Universitäten unterschiedliche Daten erfassen. Das macht die Kombination verschiedener Datensätze sehr komplex. Und nicht zuletzt muss die Bereitschaft da sein, solche Daten auch mit forschenden Pharmaunternehmen wie Roche zu teilen, um etwa die Entwicklung neuer Wirkstoffe oder Diagnostika zu beschleunigen. Pilotprojekte, wie Roche sie etwa aktuell mit der LMU durchführt, können helfen, diese Bereitschaft zu fördern.

 

Sie haben das Pilotprojekt von Roche und der LMU München angesprochen, in dem klinisch-genomische Daten in anonymisierter Form gesammelt, aufbereitet und zugänglich gemacht werden. Wie gestaltet sich das konkret?

 

Janssen: Durch die Zusammenarbeit mit der LMU lernen wir als forschendes Pharmaunternehmen, wie genau Daten im medizinischen Alltag erhoben werden, in welchen Formen sie vorliegen und welche Qualität diese Daten haben. Wir erfahren, an welchen Punkten im Verlauf einer Behandlung wichtige Entscheidungen getroffen werden, und können daraus ableiten, wie Daten aufbereitet werden müssen, um diese Entscheidungsprozesse zu erleichtern oder zu verbessern.

 

Dahinter steht die Frage nach dem Nutzen für den Patienten. In der Corona-Pandemie war der unmittelbare Nutzen leicht erkennbar. In anderen Bereichen, etwa in der Krebsforschung, sind positive Effekte oft erst nach jahrelanger Forschungsarbeit greifbar. Es braucht also einen gewissen Vertrauensvorschuss. Unsere Zusammenarbeit soll deshalb auch helfen, die Bedeutung gemeinsamer systematischer Datenanalyse für den medizinischen Fortschritt deutlich zu machen und so Menschen ermutigen, ihre Gesundheitsdaten zu teilen. 

 

Gibt es bereits erste Ergebnisse ihrer Kooperation?

 

Westphalen: Viele Menschen treibt die Sorge um, ihre persönlichen Gesundheitsdaten könnten missbraucht werden, wenn sie einer Weitergabe zustimmen. Deshalb ist für uns eine umfassende Anonymisierung von Daten sehr wichtig. Unsere IT hat ein Verfahren entwickelt, bei dem personenbezogene Daten sicher anonymisiert werden können, ohne dass irgendwelche medizinischen Daten verlorengehen. Das mag sich für Außenstehende unspektakulär anhören, ist aus IT-Sicht aber ein ganz bedeutender Schritt nach vorn und Grundlage der Zusammenarbeit: Wir können Daten sicher teilen und damit gemeinsam arbeiten.

 

Janssen: Aus unserer Perspektive kann ich das nur bestätigen. Die LMU teilt im Rahmen des Pilotprojekts ausschließlich anonymisierte Daten mit uns, die keine Rückschlüsse auf Individuen zulassen. Gleichzeitig können wir mit den medizinischen Daten arbeiten und neue Forschungsansätze entwickeln.

 

Wäre das also ein Weg, um den Vorbehalten vieler Menschen gegen die Weitergabe ihrer Gesundheitsdaten zu begegnen?

 

Janssen: Ganz sicher. Gleichzeitig müssen wir uns als forschendes Unternehmen verstärkt darum bemühen, den Menschen deutlich zu machen, welchen Nutzen unsere Arbeit unmittelbar für sie hat. Dass so etwas die Bereitschaft fördert, zeigt das Beispiel der Fitnesstracker oder Gesundheitsapps: Auch diese Geräte und Programme sammeln ja Vitaldaten und teilen sie mit den Anbietern. Der unmittelbare Nutzen besteht darin, dass der Nutzer eine Auswertung und Handlungsempfehlungen für sein Training oder seine Ernährung erhält. In unserer Kooperation mit der LMU suchen wir nicht zuletzt nach Möglichkeiten, den Nutzen unserer Forschungsarbeit für den Einzelnen ähnlich greifbar zu machen.

 

Der Datenschutz hat hierzulande einen hohen Stellenwert. Das macht die Erhebung und Verarbeitung von Patientendaten nicht einfacher. Würden Sie sich hier Erleichterungen wünschen?

 

Westphalen: Klare Antwort: Nein! Jeder Mensch hat individuell das Recht, über die Weitergabe und Verarbeitung seiner medizinischen Daten selbst zu bestimmen. Und wenn er oder sie das nicht tun möchte, dann muss man dies akzeptieren. Unsere Aufgabe als Mediziner und Forscher ist es, transparent zu machen, warum wir diese Daten erheben und teilen möchten und was genau mit ihnen passiert. Wenn wir das tun und wenn wir deutlich machen, welcher Nutzen in der Weitergabe und Auswertung dieser Daten liegt, können wir sicher viele Menschen überzeugen.

 

Es ist also weniger ein Datenschutz- als ein Kommunikationsproblem. Nicht der Gesetzgeber ist hier gefordert, sondern wir Mediziner und Wissenschaftler.

 

Janssen: Ich schließe mich dem an. Der Datenschutz ist ein hohes Gut und es ist wichtig, dass die Menschen ihre Persönlichkeitsrechte schützen können. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es, dass es beim Datenschutz hierzulande eine höhere Einheitlichkeit und Klarheit geben würde. Wir haben leider immer noch zu viele Grauzonen, in denen Datenschutz Auslegungssache ist. Wenn wir hier für mehr Klarheit sorgen, dann können wir auch mit den guten Datenschutzregeln, die wir haben, die medizinische Forschung vorantreiben.

 

Was erwarten Sie für die Zukunft – etwa dann, wenn das Pilotprojekt von Roche und LMU Schule macht?

 

Westphalen: Wenn wir es schaffen, strukturiert Daten zu erfassen und diese gemeinsam nutzbar zu machen, werden wir an den Punkt einer selbstlernenden Medizin kommen. Dann können wir aus der ärztlichen Praxis heraus Erkenntnisse generieren, die am Ende unserem Handeln als Mediziner wieder zugutekommen. Und das müssen gar nicht einmal neue Hightech-Medikamente sein. Schon eine definitive Antwort auf die Frage „Kann ich mit dieser Therapie eine Frau genauso gut behandeln wie einen Mann?“ ist ein bedeutender Erkenntnisgewinn.

 

Janssen: Wir erhoffen uns von einer besseren Verfügbarkeit medizinischer Daten, einen Schritt in Richtung „forschender Versorgung“, wie sie Herr Westphalen bereits geschildert hat. Die Erfahrungen und das Wissen der medizinischen Community sollte nicht länger in fragmentierten Datensilos verstauben, sondern zur Verbesserung der Versorgungsqualität systematisch genutzt werden. Kurz: durch effektivere Datennutzung mehr Patienten besser versorgen – das wäre mein Wunsch. 

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