Autoimmunerkrankungen wie Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD) werden bei Frauen ungleich häufiger beobachtet als bei Männern. Doch warum ist das so? Prof. Dr. Brigitte Wildemann, Oberärztin für Neurologie und Leiterin der neuroimmunologischen Ambulanz am Universitätsklinikum Heidelberg, spricht über hormonelle, genetische sowie epigenetische Einflüsse und Umweltfaktoren.
Medizinische Anfrage
Sie haben eine medizinische oder pharmazeutische Anfrage zu unseren Arzneimitteln oder klinischen Studien? Kontaktieren Sie uns untergrenzach.medical_information@roche.com oder per Telefon +49 7624 / 14 2015 (Mo-Fr 8-18 Uhr).
NMOSD verläuft in etwa 90 % der Fälle schubförmig, nur selten tritt sie monophasisch auf.1 Über alle Altersgruppen sind Frauen 4,5-mal häufiger betroffen als Männer.2 Damit ähnelt NMOSD anderen Autoantikörper-vermittelten Erkrankungen wie der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, die mit Autoantikörpern gegen den NMDA-Rezeptor einhergeht und bei Frauen etwa 4-mal häufiger vorkommt als bei Männern.3 Ähnliches trifft auf den systemischen Lupus erythematodes als Prototypen einer systemischen Antikörper-vermittelten Erkrankung mit einem Geschlechterverhältnis von 9:1 zu.4,5
NMOSD bei Frauen im gebärfähigen Alter besonders häufig
Ergebnisse der German Neuromyelitis Optica Study Group (NEMOS) zeigen, dass NMOSD bei Frauen im gebärfähigen Alter mit einem Geschlechterverhältnis von 8:1 besonders häufig auftritt. Bei Betroffenen über 40 Jahren beträgt das Geschlechterverhältnis 3:1.2 „Nach meiner Erfahrung unterscheidet sich die klinische Präsentation, das heißt die Art der Schübe, der Befall des Sehnerven, des Rückenmarks oder des Gehirns bei NMOSD jedoch nicht zwischen Frauen und Männern“, erläutert Frau Prof. Wildemann.
Hormonelle, genetische, epigenetische Faktoren und Umwelteinflüsse
Doch warum treten Autoimmunerkrankungen bei Frauen häufiger auf als bei Männern? „Dafür werden neben hormonellen Faktoren auch genetische sowie epigenetische Einflüsse und Umweltfaktoren verantwortlich gemacht“, so die Expertin. Demnach wirken weibliche Geschlechtshormone und Prolaktin aktivierend auf das Immunsystem.6 Frauen sind daher weniger empfänglich für Infektionskrankheiten, der „Preis“ dafür ist eine verstärkte Neigung zur Autoimmunität.7,8 Frauen weisen generell häufiger im Blut nachweisbare Antikörper auf, die höchsten Spiegel bei rheumatoider Arthritis werden beispielsweise im Alter von 55 Jahren beobachtet.8 Ein Beleg für genetische Einflüsse ist die häufig positive Familienanamnese bei Menschen mit Autoimmunerkrankungen, z. B. bei Rheuma, chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen oder Multipler Sklerose.9,10,11
Als epigenetischer Einfluss wird vor allem die X‑Chromosom-Inaktivierung diskutiert.12 Dabei wird bei Frauen während der Embryonalphase in jeder Zelle zufällig eines der beiden X‑Chromosomen inaktiviert.8 In den meisten Fällen werden mütterliche und väterliche X‑Chromosomen etwa gleich häufig inaktiviert.13 „Erfolgt diese Inaktivierung ungleich und eines der beiden X‑Chromosomen wird z. B. zu 80 % inaktiviert, kann hieraus eine Neigung zu Autoimmunität entstehen“, so die Expertin.
Als weiteren möglichen epigenetischen Faktor nennt Frau Prof. Wildemann den Mikrochimärismus: Während einer Schwangerschaft gehen intakte fetale Zellen aus dem fetalen Kreislauf in den Kreislauf der Mutter über. Sie können sich dort beispielsweise im Knochenmark oder in anderen Geweben wie der Synovia oder in der Haut ansiedeln. Ein Mikrochimärismus wurde bei Frauen mit Autoimmunerkrankungen in betroffenem Gewebe häufiger festgestellt als bei Frauen ohne Autoimmunerkrankungen.14 Bei den Umwelteinflüssen hob Frau Prof. Wildemann vor allem das Darm-Mikrobiom hervor. Demnach können bestimmte Bakterien, wie z. B. Clostridium perfringens, die Prädisposition für eine NMOSD erhöhen.15
1. Wingerchuk DM et al., Neurology 2015; 85:177-189
2. Borisow N et al., Mult Scler 2017; 23:1092-1103
3. Dalmau J et al., Lancet Neurol 2019; 18:1045-1057