Digitale Gesundheitslösungen
Komplexe neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose (MS) erfordern eine engmaschige Betreuung, für die die flächendeckenden Versorgungsstrukturen allerdings oftmals nicht ausreichen. Digitale Gesundheitslösungen, insbesondere Smartphone-Apps, können Patient:innen im Alltag begleiten, sie beim aktiven Krankheitsmanagement unterstützen, die Kommunikation mit dem Behandlungsteam erleichtern und haben das Potenzial, ihre Gesundheitskompetenz zu verbessern.*
Wenn über die Digitalisierung des Gesundheitswesens gesprochen wird, rangiert Deutschland international bislang eher auf den hinteren Plätzen.1 In einem Punkt ist hierzulande allerdings ein weltweit einmaliger großer Wurf gelungen: Es gibt „Apps auf Rezept“, wie Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) umgangssprachlich oft bezeichnet werden, wenn sie neben der CE-Kennzeichnung als Medizinprodukt auch durch Studien belegte positive Versorgungseffekte (pVE) nachweisen können (siehe Infobox). Der Markt für DiGA nimmt zwar nur zögerlich an Fahrt auf, daneben gibt es wissenschaftlich abgesicherte und praxiserprobte digitale Gesundheitslösungen, die insbesondere Menschen mit chronischen Erkrankungen begleiten und sie bei Linderung von Symptomen im Alltag und bei Lebensstiländerungen unterstützen können.
Welchen Mehrwert digitale Gesundheitslösungen im neurologischen Praxisalltag haben, wurde im Rahmen einer digitalen Fortbildung am 30. November 2022 beim Deutschen Ärzteverlag in Köln diskutiert: 3 Expert:innen aus Neurologie, Regulatory Affairs und Versorgungsforschung schilderten den aktuellen Stand mit Blick auf Menschen mit neurologischen Erkrankungen. Behandlungsteams sind die Vorteile dieser Apps nicht immer bewusst, wie eine Umfrage unter den Teilnehmenden zu Beginn zeigte. Während nur 26% der Befragten DiGA als einen „Gamechanger“ für die Versorgung einschätzten, gaben 39% an, die digitalen Tools seien für sie noch eine „Blackbox“.*
"DiGA haben ein großes Potenzial bei neurologischen Erkrankungen – insbesondere im Bereich neuropsychiatrischer Störungen."
Prof. Dr. med. Christoph Heesen, Leiter der MS-Ambulanz der Klinik für Neurologie am UKE Hamburg
Insbesondere die Neurologie ist für den Einsatz digitaler Gesundheitslösungen geeignet. Viele hochkomplexe und chronische neurologische Erkrankungen wie die Multiple Sklerose (MS) erfordern regelmäßige Arztbesuche und frühzeitige Interventionen.
Allerdings ist die wohnortnahe Verfügbarkeit von Expert:innen oft schwierig und es fehlen edukative Strukturen und Ressourcen. Digitale Gesundheitslösungen können die traditionellen Therapiewege ergänzen und dazu beitragen, die Patientenversorgung zu verbessern und das Verständnis für die eigene Erkrankung zu schulen. Das aktive Krankheitsmanagement und die Stärkung der Rolle der Patient:innen sowie Maßnahmen zur Verhaltensanpassung haben eine wichtige Bedeutung.
Bei MS spielen neuropsychiatrische Begleiterkrankungen wie Fatigue und Depressionen eine große Rolle. In Deutschland gibt es zwei zugelassene DiGA, um Patient:innen ergänzend zur ärztlichen Behandlung im Umgang mit diesen Begleiterkrankungen zu unterstützen. Mit elevida steht ein Onlineprogramm zur Verfügung, das auf kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) basiert und MS-Patient:innen mit Fatigue in verschiedenen Modulen interaktiv Wissen vermittelt, wie sie trotz MS und Fatigue ein aktives Leben führen können. Die Ergebnisse einer Phase-II-Studie zum Onlineprogramm zeigten einen signifikanten Effekt auf der Chalder Fatigue Scale und damit auf die Ausprägung der Fatigue.4 „Die Reduktion der Fatigue zeigte sich nicht nur in den Score-Werten, sondern spiegelte sich auch in der Wahrnehmung der Betroffenen hinsichtlich der Einschätzung ihrer Alltagskompetenz und Lebensqualität wider“, erklärte Prof. Dr. med. Christoph Heesen, Leiter der MS-Ambulanz der Klinik für Neurologie am UKE Hamburg.
Deprexis ist ein supportives Onlineprogramm für MS-Patient:innen, die Depressionen entwickelt haben, und wurde wie elevida ins DiGA-Verzeichnis aufgenommen. Die Ergebnisse der Phase-II-Studie zeigten, dass das ebenfalls interaktive Onlineprogramm nachweisbare Effekte hat.5Über einen Beobachtungszeitraum von 3 bis hin zu 12 Monaten war eine signifikante Reduktion des BDI-II (Beck-Depressions-Inventar) und eine Verbesserung der Lebensqualität zu beobachten. „Zeitlich limitierte digitale Interventionen über 3 bis 6 Monate sind wirksam und ihre Effekte können bis zu 12 Monate anhalten“, erklärte Heesen. „Weitere Untersuchungen und Analysen sind allerdings notwendig, um zu prüfen, ob der Therapieeffekt durch andere Arten von Support noch verstärkt werden kann."
Neben dem supportiven Charakter der digitalen Anwendungen und Apps für die MS-Patient:innen, können diese ebenfalls dazu beitragen, den therapeutischen Alltag in neurologischen Praxen zu entlasten.
Mögliche körperliche Einschränkungen der Patient:innen sowie häufig fehlende flächendeckende Versorgungsstrukturen steigern den Bedarf für Remote-Therapien. Dennoch sei es eher selten, dass Patient:innen in der Sprechstunde von selbst nach digitalen Medizinprodukten fragen. Häufig seien sie sogar erst einmal skeptisch, wenn ihnen in der neurologischen Praxis CE-gekennzeichnete Apps oder DiGA empfohlen werden. „Es gilt noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Patient:innen wünschen sich Hilfe von ihrem Arzt und nicht von einem digitalen Tool. Sie müssen verstehen, dass die digitalen Helfer eine Ergänzung zur ärztlichen Behandlung sind und einen nachweisbaren Mehrwert haben“, so Prof. Heesen.
"Digitale Medizinprodukte sind Helfer in der Hand der Patient:innen. Derzeit vor allem im Bereich psychiatrischer und neurologischer Erkrankungen, wo die Wartelisten der Praxen lang und Termine rar sind."
Dr. Anja Kassner, Expertin für Regulatory Affairs bei Software-Produkten
Es ist vor allem die Vielfalt an Begriffen, die im Zusammenhang mit Digitalprodukten im Gesundheitsbereich Verwirrung stiftet. Da ist die Rede von Fitness- und Lifestyle-Apps, mHealth und Digital Health-Anwendungen, Medizin-Apps und Apps auf Rezept. Wie Dr. Anja Kassner als Expertin für Regulatory Affairs bei Software-Produkten betonte, gilt es tatsächlich vor allem folgende Varianten zu unterscheiden:
Nicht-medizinische Gesundheits-Apps erfüllen keinen medizinischen Zweck, sondern dienen der allgemeinen Gesundheitsförderung, der Information und dem Selbstmanagement. Hierzu zählen z.B. Schrittzähler-Apps, Kalorientracker oder Patiententagebücher zur Dokumentation. Sie müssen lediglich die allgemeinen, für Softwareprodukte geltenden, Anforderungen an Datenschutz und Produkthaftung erfüllen.
Digitale Medizinprodukte, d.h. Software, erfüllen laut Hersteller spezifische medizinische Zwecke wie die Diagnose, Verhütung, Überwachung, Vorhersage, Behandlung oder Linderung von Krankheiten bzw. Verletzungen oder Behinderungen. Für diese regulierten Produkte muss der Hersteller in Bezug u.a. auf Produktentwicklung, Dokumentation, Gesundheitsdatenschutz und Qualitätsmanagement die spezifischen Anforderungen der Europäischen Medizinprodukteverordnung erfüllen und die Konformität mit den rechtlichen Anforderungen durch ein CE-Kennzeichen am Produkt anzeigen.
DiGA sind eine Unterkategorie digitaler Medizinprodukte, die zusätzlich einen positiven Versorgungseffekt (pVE) nachweisen müssen. Wurde dieser Effekt mit entsprechender Evidenz belegt, kann ein digitales Medizinprodukt vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zugelassen, vorläufig bzw. endgültig ins DiGA-Verzeichnis2 aufgenommen und zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden. Basis hierfür ist das 2019 verabschiedete Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG).3
"Ich wünsche mir, dass Smartphone-Apps stärker entlang von Versorgungsengpässen entwickelt werden – ohne künstliche Grenzen zwischen digitaler und persönlicher Betreuung."
Hans-Holger Bleß, Partner und Leiter des Geschäftsbereichs Digital Health, _fbeta GmbH
Nach Auffassung von Hans-Holger Bleß, Partner und Leiter des Geschäftsbereichs Digital Health beim Beratungsunternehmen _fbeta GmbH, können digitale Medizinprodukte bzw. DiGA auch dazu beitragen, die bislang wenig abgestimmten und nach ambulantem bzw. stationärem Sektor getrennten Versorgungspfade im Kollektivvertrag zu verbessern. Die digitalen Gesundheitslösungen könnten das Handeln von Leistungserbringern und Patient:innen sektorenverbindend integrieren.
Diese Integration wird gewährleistet durch 5 primäre Funktionstypen, die ein erfolgreiches digitales Medizinprodukt bzw. eine entsprechende DiGA ausmachen:
- Information und Bildung (z.B. E-Learning),
- Analyse und Erkenntnis (z.B. Dashboard zur Visualisierung der Aktivität),
- indirekte Intervention (z.B. PushNachrichten zur Steigerung der Adhärenz),
- direkte Intervention (z.B. Tutorials, Quizfragen oder Übungen),
- Dokumentation (z.B. Verlaufsprotokoll von Therapiedaten und Symptomen)
Brisa ist eine CE-zertifizierte, wissenschaftlich fundierte App, mit der Menschen mit MS ihre MS-Symptome im Alltag erfassen und den Verlauf der Erkrankung kontinuierlich beobachten können. Die App ermöglicht den Export der erfassten Symptome als PDF, sodass Patient:innen diese direkt mit ihrem Behandlungsteam teilen können – therapieunabhängig.
Zusätzlich haben Patient:innen in der Brisa® App Zugang zum OcreKompass, einem digitalen Therapiebegleiter speziell für Ocrelizumab-Patient:innen.
Lesen Sie hier mehr zu Brisa.
Mittlerweile hätten sich randomisierte Kontrollstudien als Goldstandard für den Nutzennachweis von DiGA etabliert. Auf ihnen basierten 78% der Anträge auf einen Nutzennachweis, erklärte Bleß.6 „Die Anforderungen an den Evidenznachweis für DiGA sind damit höher als ursprünglich erwartet.“ Für den Nachweis positiver Versorgungseffekte (pVE) können neben dem klassischen medizinischen Nutzen auch patientenrelevante Strukturund Verfahrensverbesserungen (pSVV) herangezogen werden. „Hier einen positiven Effekt nachzuweisen, bedarf einer neuen Art von Studienendpunkten“, meinte Bleß.
Einer der bisherigen Indikationsschwerpunkte von DiGA seien psychische Erkrankungen, hier insbesondere Depressionen. Die für diese Erkrankung bereits zugelassenen DiGA wie deprexis könnten als Vorbild für weitere Indikationen dienen: „Wir können gezielt aktives Gesundheitshandeln anstoßen. Der Patient verlässt seine passive Rolle und beteiligt sich aktiv am Heilungsprozess. Möglicherweise lässt sich auf diese Weise sogar der Paternalismus im Gesundheitssystem aushebeln – zugunsten eines kompetenten Patienten“, meinte der Digital Health-Experte. Beispiele für Klasse I-CE gekennzeichnete digitale Medizinprodukte bzw. zugelassene DiGA für Menschen mit neurologischen Erkrankungen sind elevida (DiGA für den Einsatz bei Fatigue bei MS)4 und neotivCare (mobile Anwendung mit kognitiven Tests zum Erkennen von Gedächtnisproblemen bei Alzheimer).
Am Ende des digitalen ExpertenForums zeigten sich 57% der Teilnehmenden* überzeugt: Digitale Medizinprodukte und DiGA können den neurologischen Praxisalltag sehr erleichtern – und sowohl für Ärzt:innen wie auch für Patient:innen einen Mehrwert bieten.
- Bei komplexen chronischen Erkrankungen wie MS können digitale Medizinprodukte das Krankheitsmanagement ergänzen (z. B. Verhaltensänderungen/Therapien, Umgang mit Fatigue und anderen neurologischen Symptomen) und Patient:innen motivieren.
- Apps können dazu beitragen, das eigenverantwortliche Selbstmanagement von Patient:innen und damit die neurologische Versorgung zu verbessern.
- Digitale Medizinprodukte können den neurologischen Praxisalltag erleichtern und Ärzt:innen bei der Überbrückung von Wartezeiten oder Vermittlung individualisierter Verhaltenstipps unterstützen.
- Digitale Medizinprodukte sind z. B. Apps, die eine medizinische Zweckbestimmung haben und Europäische Regularien erfüllen, erkennbar an der CE-Kennzeichnung.
- DiGA sind digitale Medizinprodukte, die zur Erstattung in Deutschland zusätzliche Kriterien (bei Sicherheit, Datenschutz und Funktion) erfüllen und u. a. einen positiven Versorgungseffekt (pVE) nachweisen müssen.
- Da es sich bei DiGA um zugelassene und verordnungsfähige Produkte handelt, die von der Krankenkasse freigeschaltet werden, sind Regresse nicht zu befürchten.
Dieser Text ist als erstes als Therapie aktuell im Deutschen Ärzteblatt in Ausgabe 12/2023 (ET 24.03.2023) erschienen.
* Umfrage unter Teilnehmenden des Expertenforums in Kooperation mit dem Deutschen Ärzteverlag am 30.11.2022 (n = 14)
1. Bratan T et al., E-Health in Deutschland. Studie zum deutschen Innovationssystem Nr. 12–2022
2. DiGA-Verzeichnis BfArM (o.D.). https://diga. bfarm.de/de (letzter Zugriff am 02.03.2023)
3. Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG. Bundesgesetzblatt 2019 Teil I Nr. 49 vom 18.12.2019, S. 2562
4. Pöttgen J et al., J Neurol Neurosurg Psychiatry 2018; 89: 970–976
5. Fischer A et al., Lancet Psychiatry 2015; 2: 217–223
6. Evidenz bei DiGA – Anforderung und Erfahrungen. Webinar des BfArM vom 22.03.2022