Präzisionsmedizin
Die CUPISCO-Studie als Wegweiser? Die Bedeutung der molekular begründeten Therapie zeigt sich bei Patient:innen mit unbekanntem Primärtumor
Interview mit Dr. Benedikt Westphalen
Die Präzisionsonkologie bietet Mediziner:innen ein erweitertes Spektrum therapeutischer Möglichkeiten und Patient:innen gänzlich neue Perspektiven. Welches Potenzial in der umfassenden molekularen Tumordiagnostik und der darauf ausgerichteten zielgerichteten individuellen Behandlung steckt, unterstreichen aktuelle Daten der CUPISCO-Studie bei ungünstig prognostizierten Patient:innen mit CUP-Syndrom (CUP: Cancer of Unknown Primary). In der globalen multizentrischen Phase-II-Studie zeigte sich ein deutlich verlängertes progressionsfreies Überleben (PFS) gegenüber der standardmäßig eingesetzten platinhaltigen Chemotherapie, wenn die Betroffenen eine zielgerichtete Therapie oder kombinierte Chemo-Immuntherapie auf Basis eines zuvor ermittelten molekularen Tumorprofils erhielten. Im Interview ordnet Dr. Benedikt Westphalen den Stellenwert der CUPISCO-Studie für die Präzisionsmedizin ein und bezieht Stellung zu den Chancen und Hürden der molekular begründeten Therapie (MGT: molecular-guided therapy).
Dr. Benedikt Westphalen
Ärztlicher Leiter am Comprehensive Cancer Center der LMU München
Leitung der onkologischen Spezialambulanz für seltene Krebserkrankungen und das CUP-Syndrom der Medizinischen Klinik Poliklinik III
Dr. Westphalen: Die CUPISCO-Studie ist die erste randomisierte Studie in der Präzisionsonkologie, die positive Ergebnisse erbracht hat. Wir sprechen hier über eine Patientenkohorte mit einer, von Anfang an, extrem schlechten Prognose. Dementsprechend ist jedes Signal an Aktivität erstmal positiv einzuschätzen.
Für mich ist aber viel wichtiger, dass man mit dieser Studie bewiesen hat, dass man ein derartiges Behandlungskonzept überhaupt in einem randomisierten Setting ganzheitlich abbilden kann. Von der leitliniengerechten Diagnostik, über die Einleitung einer systemischen Chemotherapie, einer qualitätsgesicherten Diagnostik bis hin zur Applikation dieser zielgerichteten Therapien unter Hinzunahme eines molekularen Tumorboards. Ich denke, das ist ein guter Bauplan für zukünftige Studien.
Im Dialog mit den Krankenkassen könnte das Vorgehen möglicherweise auch als Modell dienen, um auch andere Erkrankungen außer CUP in einer strukturierten Art und Weise zu diagnostizieren und zu behandeln. Das ist denke ich der wichtigste Aspekt von CUPISCO. Wir sollten nicht nur auf patientenrelevante Ergebnisse schauen, sondern auch darauf, was wir aus dieser Studie lernen und auch in andere Indikationen einbringen können.
Dr. Westphalen: Mein Alltag ist relativ nah an der CUPISCO-Studie dran. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass sowohl Roche als auch die Expert:innen CUPISCO nun nicht in einer Schublade verstauben lassen. Es wurde ein großer logistischer und finanzieller Aufwand für diese Studie betrieben und wir sollten nun damit weiterarbeiten. Wir können aus den Ergebnissen außerdem lernen, dass das multidisziplinäre Management von Patient:innen mit CUP essenzieller Bestandteil einer adäquaten Diagnostik und Therapie sein sollte.
Natürlich sind durchschnittlich sieben Wochen Unterschied im PFS innerhalb der ITT-Population keine Heilung, das ist völlig klar. Schaut man genauer hin, zeigt die CUPISCO-Studie auch, dass Patient:innen mit relevanten molekularen Zielstrukturen, die therapeutisch nutzbar sind, ein um mehrere Monate längeres PFS aufweisen können.
Für das Individuum sind es also vielleicht nicht nur ein paar Wochen, sondern Monate. Dann sprechen wir auf einmal von sehr relevanten Patient:innen-Endpunkten. Das ist die Geburt eines Kindes, eine Abiturfeier – ohne allzu melodramatisch werden zu wollen. Es ist wichtig, einmal die globale Bedeutung zu sehen, aber dabei das Individuum nicht zu vergessen.
Dr. Westphalen: Das ist meiner Meinung nach das schwierigste Thema: Integration der Liquid Biopsy in die klinische Versorgungsrealität. In den meisten Fällen nutzen wir Gewebe für unsere erweiterte molekulare Diagnostik. Wenn kein Gewebe zur Verfügung steht und wir auch nicht neu biopsieren können, dann kommt im Einzelfall die Liquid Biopsy zum Einsatz. Mein Vertrauen in die Liquid Biopsy steigt immer weiter.
Leider wird diese Technik aber bisher nicht oder nur in sehr seltenen Fällen vergütet. Ich denke, es ist Zeit, uns mit allen Partnern, die hier am Tisch der Präzisionsonkologie sitzen, gemeinsam Gedanken zu machen. Wir müssen jetzt in die Lage kommen, Technologien basierend auf solider Evidenz in die Versorgungsrealität zu bringen und sie dann auch adäquat zu nutzen. Am besten gleich für mehrere Substanzen, damit dort im Label beispielsweise „per Liquid Biopsy“ steht. Die Kosten werden dann erstattet und wir können mehr testen, was wiederum den Patient:innen zu Gute kommt.
Dr. Westphalen: Sowohl die NCCN-Guidelines2 als auch die ESMO-Guidelines3 empfehlen, dass man bei Patient:innen mit CUP-Syndrom eine erweiterte molekulare Diagnostik einbezieht. In vielen Gesundheitssystemen ist diese erweiterte molekulare Diagnostik nur bedingt vergütet und insofern ist der Zugang zur Diagnostik für die Patient:innen erschwert.
Wenn wir nun prospektive Daten haben, die ein positives klinisches Signal senden, wie wir es in der CUPISCO-Studie gesehen haben, ist das sicherlich wichtig. Diese Ergebnisse können vor Ort genutzt werden, um beispielsweise ein Präzisionsonkologie-Programm um CUP-Patient:innen zu erweitern. Denn wir haben ja nun erstmals die Evidenz, dass diese Patient:innen durchaus profitieren können. Es gibt hier das Potenzial, Patient:innen mit relevanten molekularen Alterationen zu finden, die therapeutisch behandelt werden können. Wer innovativ genug denkt, wird dieses Wissen nun sicherlich nutzen.
Dr. Westphalen: Die Frage, ob und wie Wirkstoffe Histologie-unabhängig wirken, ist eine der zentralen Fragen, die wir uns in der modernen Onkologie aktuell stellen. Meines Erachtens haben wir, auch wenn die FDA mehrere Biomarker-getriebene Substanzen über Entitätengrenzen hinweg zugelassen hat, momentan nur einen einzigen Biomarker, der über alle Entitäten hinweg das Ansprechen auf eine zielgerichtete Therapie zuverlässig voraussagt, sogenannte NTRK-Fusionen. Die Aktivität der zielgerichteten Substanzen ist über alle Entitäten hinweg vergleichbar, fast immer über 50 % – diese Ergebnisse halten auch nach Zulassung in der Praxis stand.
Bei vielen anderen Entitäten und Indikationen sehen wir signifikante Unterschiede im Ansprechen auf Substanzen mit breiter Wirksamkeit, sowohl in Bezug auf das Ausmaß als auch auf die Dauer des Ansprechens. Tatsächlich arbeiten wir bei der ESMO daran, einen Klassifikator zu entwickeln, um statistisch sauber aufzuarbeiten, bei welchen weiteren Substanzen und molekularen Markern wir von einer breiteren Aktivität sprechen können und wie diese Aktivität durch die zugrunde liegende Histologie moduliert wird.
Ein gutes Beispiel hierfür ist BRAFV600E. Diese Mutation ist zwar ein molekulares Target im kolorektalen Karzinom, muss aber bei einem Melanom oder einem Gallengangskarzinom anders angegangen werden. Außerdem gibt es noch Biomarker wie PIK3CA. Richtig gute Ergebnisse sehen wir dort nur bei Brustkrebs, obwohl eine gewisse Aktivität auch in anderen Entitäten beobachtet wurde.
Es gibt also eine Menge sehr interessanter onkogener Treiber, für die wir immer bessere Medikamente finden werden. Gemeinsam müssen wir aber daran arbeiten, die erforderliche Evidenz zu sammeln. Wir müssen herausfinden, welche Medikamente tatsächlich breite und welche eher begrenzte Anwendungsmöglichkeiten haben.
Dr. Westphalen: Die Bedeutung der erweiterten molekularen Diagnostik nimmt immer weiter zu, um Patient:innen alle zugelassenen therapeutischen Optionen anbieten zu können. Ehrlich gesagt sprechen wir aber schon seit einem Jahrzehnt über die Hoffnungen, die mit der sogenannten Präzisionsonkologie verbunden sind: Wir testen, finden bei circa 40 % der Patient:innen eine molekulare Zielstruktur und behandeln entsprechend zielgerichtet und wirkungsvoll – entweder nach Zulassung oder im Rahmen klinischer Studien.
Leider hat sich diese Hoffnung nicht ganz erfüllt. Wenn wir weder ein zugelassenes Medikament noch eine klinische Studie haben, stehen wir bei der Behandlung vor Herausforderungen. Oft haben wir nur die Option, den Zugang zu Medikamenten primär durch individuelle Heilversuche zu ermöglichen. Ich denke, das ist der falsche Weg, um auch die nächsten zehn Jahre zu beschreiten.
Aus diesem Grund haben wir bei der ESMO bereits 2020 Empfehlungen herausgegeben, bei welchen fortgeschrittenen Tumorerkrankungen Next Generation Sequencing (NGS) eingesetzt werden sollte, basierend auf der Anzahl der therapierelevanten Biomarker bei einer Erkrankung. Heutzutage betrifft das nicht nur das nicht-kleinzellige Bronchialkarzinom, sondern auch andere Krebsarten wie das Prostatakarzinom und das Gallengangskarzinom.
Wahrscheinlich wird auch CUP in diese Kategorie fallen, wenn die neuen Empfehlungen voraussichtlich in diesem Jahr veröffentlicht werden. Daher müssen wir sagen: NGS soll als Standard für unsere Patient:innen dort eingesetzt werden, wo es wirklich therapeutisch relevant ist. Dort, wo es noch kein Standard ist, aufgrund mangelnder zugelassener Substanzen, sollte es zumindest bei Bedarf zur Verfügung stehen.
Dr. Westphalen: Ich glaube, das molekulare Tumorboard war über die letzten zehn Jahre überwiegend dazu da, herauszuarbeiten, welche therapeutischen Möglichkeiten mit vergleichsweise niedriger Evidenz für Patient:innen mit fortgeschrittenen Tumorerkrankungen zur Verfügung stehen. Dafür braucht man eine breite Expertise: Leute, die sich hinsetzen, Pubmed durchforsten, googeln und recherchieren; Leute, die diese Daten am Ende dann auch noch auswerten.
Ich glaube, das molekulare Tumorboard der Zukunft wird sich noch mehr darauf fokussieren müssen, Patientenmanagement zu betreiben. Damit ist gemeint: Wo finden wir klinische Studien? Wo ist die Evidenz gut genug, dass wir experimentelle Heilversuche starten können? Und wo ist die Evidenz so schlecht, dass wir das bleiben lassen? Kurz gesagt: die Interpretation des molekularpathologischen Befundes noch stärker mit Evidenzen für mögliche Therapieoptionen zusammenführen.
Außerdem geht es darum, die ärztlichen Kolleg:innen weiter zu sensibilisieren, Impulse zu geben, wo es Sinn macht zu testen und wo eine erweiterte molekulare Diagnostik nur sehr selten einen Zusatzgewinn bringt. Dadurch können wir vermeiden, Geld auf Kosten des Gesundheitssystems auszugeben, wenn der Gewinn für den Patient:innen nur marginal ist. Diese Expertise zur Verfügung zu stellen und Verantwortung im Patientenmanagement zu übernehmen, da sehe ich die Aufgabe des molekularen Tumorboards der Zukunft.
Dr. Westphalen: Diese Frage ist komplex. Wenn man sich entscheidet – und das ist natürlich eine Frage, die ausschließlich in First World Countries gestellt wird – man möchte seiner Gesellschaft Innovationen zur Verfügung stellen, dann muss man sich die gesamte Wertschöpfungskette anschauen. Die beginnt mit der adäquaten Versorgung mit Diagnostik und geht bis zur Zurverfügungstellung von Medikamenten. Alle Hürden und Herausforderungen, die dafür zu nehmen sind – etwa die Evidenzgenerierung, die Zulassung, die Nutzenbewertung, Erstattung und so weiter – sind etwas, worüber sich wiederum alle gemeinsam Gedanken machen müssen. Risk Sharing und Pay for Performance-Modelle sind hier eine Möglichkeit, um mit immer knapperen Ressourcen auch hochpreisige Medikamente in die Versorgung zu bringen.
Gerade bei kleinen Patientengruppen, etwa bei seltenen oder schwer behandelbaren Krebserkrankungen wie dem CUP, müssen wir dazu gemeinsam die Gesundheitsversorgung neu denken. Und dabei müssen auch schmerzhafte Fragen gestellt werden: Wollen wir diese Form der Versorgung und wenn ja, können wir sie uns leisten? Wenn beide Fragen mit „ja” beantwortet werden, dann gilt es, diese Fragen auch gemeinsam anzugehen. Da reicht es dann auch nicht, nur Onkolog:innen, Pharmaunternehmen oder Kassen zu fragen. Nein, wir müssen dann alle gemeinsam Antworten auf diese Fragen finden.
Dr. Westphalen: Natürlich sind Pay for Performance-Modelle die Ausnahme, aber wir waren bisher in der Lage, randomisierte Studien zu erstellen. Jetzt stehen wir vor der Problematik, dass wir neue, hochwirksame Substanzen sehen, bei denen eine Randomisierung unethisch wäre, oder zumindest nicht in einem angemessenen zeitlichen Rahmen umsetzbar ist.
Es gibt Berechnungen, nach denen man bei manchen Studien über 100 Jahre bräuchte, um einen bestimmten relevanten Endpunkt im randomisierten Setting zu erreichen.4 Das kann man entweder so hinnehmen, oder man beginnt sich gemeinsam Gedanken zu machen, wie es anders aussehen könnte. Das ist denke ich unsere Aufgabe für die kommenden Jahre.
Dr. Westphalen: Bei den Vorarbeiten zur CUPISCO-Studie haben wir gelernt, dass man bei Menschen mit CUP-Syndrom nun mal irgendwann mit der Behandlung beginnen muss. Viele der Patient:innen sind absolut verzweifelt, weil sie auch nach der Zweit- oder Drittmeinung noch den Eindruck haben: „Ich habe ja keine Diagnose!” Wenn man ihnen dann aber erklärt: „Sie haben eine Diagnose. Sie haben eine metastasierte Krebserkrankung mit gewissen Eigenschaften, die wir kennen”, hilft das oft, für ein gewisses Maß an Sicherheit zu sorgen, auch wenn wir nicht wissen, woher die Erkrankung kommt.
Für die adäquate Versorgung dieser Patient:innen braucht es Zeit, Expertise und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Das ist meiner Meinung nach eine Aufgabe für ein Expertenzentrum. Wenn der diagnostische Prozess abgeschlossen ist, ist es wichtig, nicht immer und immer weiter nach anderen möglichen Ursprüngen zu suchen. Stattdessen ist es entscheidend, zu einer Einschätzung zu gelangen, ob es sich um ein CUP-Syndrom mit ungünstiger oder günstiger Prognose handelt, um dann mit der Behandlung zu beginnen. Je länger man mit der Behandlung wartet, desto länger müssen die Patient:innen leiden und desto schlechter ist die Prognose. Dies ist meiner Meinung nach der wichtigste Aspekt, den man weitergeben kann.
Auch hier hat uns die CUPISCO-Studie weitergeholfen: Denn der sehr detaillierte diagnostische Weg, der dort gegangen wurde, ist etwas, das als Paradigma eingeführt werden sollte. Dadurch können Patient:innen in Zukunft schneller in die Standardtherapie überführt werden, die heutzutage leider eine platinbasierte Chemotherapie ist. Es ist wichtig, dass wir der Erkrankung zunächst systemisch den Riegel vorschieben, bevor wir überlegen, ob eine zusätzliche zielgerichtete Therapie sinnvoll ist.
1. Mileshkin L et al. ESMO 2023. Proffered Paper Session, LBA16
2. NCCN Clinical Practice Guidelines in Oncology: Occult Primary (Version 1.2024)
3. Krämer A et al. Ann Oncol 2023; 34(3):228-246
4, Lozano-Ortega G et al. Poster. ISPOR-2019