Zukunft der Onkologie

Macht individualisierte Medizin
erst möglich: Das „Doppelpack“
aus RCT und RWD

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass aus Evidenz, generiert aus den Gesundheitsdaten der Routineversorgung, wichtige Erkenntnisse entlang des gesamten Lebenszyklus eines Arzneimittels entstehen können – von der frühen Forschung, der Entwicklung, über die Zulassung und den Einsatz im klinischen Alltag bis hin zur Nachsorge. Werden zusätzlich die subjektive Patienten-Perspektive und die jeweils individuellen biologischen Charakteristika berücksichtigt, wird individualisierte Medizin Realität. Der Blick auf die gängige Praxis zeigt: Bei der Ergänzung und Flankierung von Daten aus den randomisierten klinischen Studien (RCTs) mit den Erkenntnissen aus der „echten“ Welt der Versorgung (Real World Data, RWD) ist noch Luft nach oben. Dabei ist der Nutzen für Patienten, für Forschung und die Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen gar nicht hoch genug einzuschätzen.

 

Es ändert sich etwas im Verhältnis zwischen den behandelnden Ärztinnen und Ärzten und ihren Patienten – das strikte Rollenkonzept bricht auf. Das ist eine der Folgen der Digitalisierung: Die betroffenen Menschen haben oft schon vor der Konsultation den „Netdoktor“ zu Rate gezogen und wissen (vermeintlich), was nun zu tun ist. Das mag nicht immer hilfreich sein, ist aber eine große Chance für den Behandlungserfolg. Da spielen auch die persönlich empfundenen Folgen einer Therapie mit rein wie psychosoziale Aspekte, die sich nicht immer mit den „harten Fakten“ des Medizinbetriebs decken müssen; etwa, wenn Befunde der subjektiven Wahrnehmung der Patientinnen und Patienten widersprechen. Wenn Studien belegen, dass gerade die in der Betreuung von chronisch kranken Menschen engagierten Angehörigen  das  körperliche und mentale Wohlbefinden der Patienten empfindlich einschränken können, wenn sie selbst unter der psychischen Belastung der Betreuung leiden, dann unterstreicht das: Gute Medizin ist weit mehr als das Interpretieren von Daten aus klinischen Studien.

 

Als „Patientenreise“ (patient journey) gilt die Abfolge von Phasen, die die betroffenen Menschen während ihrer Versorgung durchlaufen. Sie beginnt bei der Prävention, erstreckt sich über die Diagnose, die Behandlung der Symptome und Ursachen der Erkrankungen bis hin zur Nachsorge. In all diesen Phasen entstehen Gesundheitsdaten, die für die Beurteilung von Therapieerfolg und -misserfolg Auskunft geben und wichtige Erkenntnisse dazu liefern können, wie eine Therapie optimiert werden kann. Dazu gehören auch die „patient reported outcomes“ (PRO), jene subjektiven Wahrnehmungen der Patientinnen und Patienten, deren digitale Erfassung und Auswertung zum Beispiel bei Menschen mit Krebs einen Überlebensvorteil ermöglichen, wenn durch sie eine frühere Erkennung von Rezidiven erfolgt.

Hürden für eine bessere Nutzung von RCT und RWD
Um diese Daten in Deutschland großflächig für eine bessere Versorgung kranker Menschen nutzen zu können, müssen vor allem zwei Hürden genommen werden:
  • Die routinemäßig in elektronischen Gesundheitsakten, Patientenregistern, Wearables, bei Krankenkassen oder in Form von genomischen Datensätzen erhobenen Gesundheitsdaten gibt es meist nur „versprengt“; sie existieren in einem proprietären, meist nicht austauschbaren Format. Wenn es um eine gemeinsame „Sprache“ zur patientenindividuellen Nutzung von Daten geht, herrscht in Deutschland das „Turmbau-zu-Babel-Prinzip“. Um das zu ändern, muss die Digitalisierung im Gesundheitswesen sektorenübergreifend dringend umgesetzt werden.
  • Um die patientenzentrierten Ereignisse mit den Behandlungsdaten zu verknüpfen, braucht es als ersten Schritt individuelle Datenräume, die die Patienten selbst verwalten können. Diese Daten könnten dann anonymisiert über eine sogenannte breite Einwilligung („broad consent“) für die Forschung verfügbar gemacht und regelhaft genutzt werden. Dies würde es ermöglichen, alle Gesundheitsdaten, die im Laufe der gesamten Behandlungssituation entstehen, „systematisch, fortlaufend und lückenlos zu sammeln und auszuwerten. So bleibt das Verständnis von ´personalisierter Medizin` nicht nur ein Teil der Grundlagenforschung, sondern wird im klinischen Alltag als eine moderne Versorgungsform gelebt“, schreibt dazu das Autorenteam um Petya Zyumbileva von der Berliner Charité. Auch die Patientensouveränität würde gestärkt.

 

Der gesamte Nutzen einer qualitätsgesicherten Verschmelzung der Welten aus RCT und RWD ist erst in Ansätzen erkennbar. Denn daraus ergeben sich innovative Studiendesigns, die bisher nicht möglich waren, aber das Potenzial haben, Therapiefolgen besser abzuschätzen und besser zu verstehen. Mithilfe von Prozessen der Künstlichen Intelligenz (KI), die in der Lage sind, riesige Datenmengen durchzuforsten, lassen sich beispielsweise Krankheitsmuster erkennen, die bisher im Dschungel ungenutzter Datenseen vor sich hinschlummern.

Gesundheitsdaten: Mehr ist mehr

Die aus der Versorgung generierte Evidenz (RWE) spielt in den Zulassungsprozessen von Arzneimittelinnovationen eine wachsende Rolle – das belegen Zahlen der Zulassungsbehörden in den USA und Europa, FDA und EMA. In einem Fachartikel von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) heißt es: „Wissenschaftliche Auswertungen […] deuten jedoch darauf hin, dass von RWD abgeleitete RWE zusätzliche Erkenntnisse ermöglicht, die auch in den Produktlebenszyklusschritten vor der Zulassung von Arzneimitteln genutzt werden kann, indem sie die Limitationen der ihnen zugrunde liegenden RCTs – insbesondere die begrenzte Generalisierbarkeit der Ergebnisse aufgrund kleiner und hochselektiver Studienpopulationen – adressiert.“

 

Durch den Aufbau einer Infrastruktur, die die Daten interoperabel, harmonisiert und zugänglich macht, erhofft sich die Wissenschaft neue Möglichkeiten der Nutzung von Versorgungsdaten. In Deutschland wird dazu das Forschungsdatenzentrum Gesundheit (FDZ) geschaffen. Seine Aufgabe: Das Potenzial, das in der Erhebung, Analyse und Nutzung von anonymisierten Gesundheitsdaten steckt, mit dem Schutz dieser hochsensiblen Daten zu versöhnen und auszuschöpfen. Auf europäischer Ebene entsteht gerade der „European Health Data Space“ – mit dem Ziel einer EU-weiten Dateninfrastruktur. Denn bei der Nutzung von Gesundheitsdaten gilt das Prinzip: Nur mehr ist mehr. Je mehr anonymisierte Daten im Kontext einer Behandlung zur Verfügung stehen, desto granulierter kann die Analyse sein.

 

Wer Schritt mit der modernen Medizin halten, wer ein lernendes und wirklich patientenorientiertes Gesundheitssystem will, der kommt an einer Erkenntnis nicht vorbei: Die aus RWD generierte Evidenz muss zusammen mit der Welt der klassischen klinischen Studien als „Doppelpack“ gesehen werden – zu wertvoll ist das, was außerhalb der hochregulierten RCTs passiert, um kranke Menschen besser zu versorgen. Das heißt auch: RWD muss viel intensiver genutzt werden, als das bisher der Fall ist. Dazu muss sich etwas in unseren Köpfen ändern: Das gerade in Deutschland virulente Verständnis von Datenschutz als das Nicht-Nutzen solcher Informationen steht dem im Wege; es sorgt letztlich dafür, dass Patientinnen und Patienten zu Schaden kommen. Denn es bedeutet: Wir lassen wichtige Erkenntnisse am Straßenrand liegen – und das schafft unnötiges Leid, inakzeptable Behandlungsergebnisse, hohe Ineffizienz und unnötige Kosten.

 

Warum sollten wir das tun? 

Weiterführender Artikel:

Wicherski, Schneider, Zinserling,  J. et al. Real-world-Daten der Arzneimittelregulation - Entwicklungen und Ausblick. 
Präv Gesundheitsf (2023).  https://doi.org/10.1007/s11553-022-01010-7

 

Zyumbileva, P., Uebe, M., Rudolph, S. et al. Den Patienten wirklich verstehen lernen: Real-world-Evidenz aus der „patient journey“.
Präv Gesundheitsf (2022). https://doi.org/10.1007/s11553-022-00984-8

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