MS und NMOSD: Diagnose im Check

Kleine Unterschiede mit großen Folgen

Die NMOSD galt lange Zeit als Unterform der Multiplen Sklerose (MS). Beide Autoimmunerkrankungen betreffen das Gehirn und das Rückenmark und weisen viele klinische Gemeinsamkeiten auf. Verwechslungen beider Erkrankungen und Fehldiagnosen kommen daher gehäuft vor. Denn die Differentialdiagnose zwischen MS und NMOSD ist aufgrund der ähnlichen klinischen Symptome und ähnlicher MRT-Befunde nicht immer ganz einfach. Die folgenden beiden Kasuistiken zeigen entweder die Symptome einer MS oder einer NMOSD.

 

Welche Diagnosen ordnen Sie den Fallbeispielen zu?

Die nachfolgenden Fallbeispiele stammen aus einem Vortrag von Prof. Dr. med. Ingo Kleiter, Ärztlicher Leiter und Geschäftsführer in der Marianne-Strauß-Klinik, Berg, im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung. 

Fall 1

55-jährige Patientin mit rasch progredienter Hemiparese rechts, keine Besserung auf Steroide

Vorgeschichte

1977

 Retrobulbärneuritis (RBN)

1978

2. Schub, Diagnose schubförmige MS (RRMS), 1−2 Schübe/Jahr

1991−08/2003

Azathioprin, 0−1 Schübe/Jahr

08/2003−01/2005

Interferon beta-1a 3x22 µg

01/2005−04/2008

Interferon beta-1a 3x44 µg, weitere Schübe, meist RBN

07/2008−02/2009

Natalizumab (8 Infusionen, Start EDSS 3.5), hierunter 1x RBN

1977

1978

1991−08/2003

08/2003−01/2005

01/2005−04/2008

07/2008−02/2009

 Retrobulbärneuritis (RBN)

2. Schub, Diagnose schubförmige MS (RRMS), 1−2 Schübe/Jahr

Azathioprin, 0−1 Schübe/Jahr

Interferon beta-1a 3x22 µg

Interferon beta-1a 3x44 µg, weitere Schübe, meist RBN

Natalizumab (8 Infusionen, Start EDSS 3.5), hierunter 1x RBN

1977

1978

1991−08/2003

08/2003−01/2005

01/2005−04/2008

07/2008−02/2009

 Retrobulbärneuritis (RBN)

2. Schub, Diagnose schubförmige MS (RRMS), 1−2 Schübe/Jahr

Azathioprin, 0−1 Schübe/Jahr

Interferon beta-1a 3x22 µg

Interferon beta-1a 3x44 µg, weitere Schübe, meist RBN

Natalizumab (8 Infusionen, Start EDSS 3.5), hierunter 1x RBN

Vorgeschichte

1977

1978

1991−08/2003

08/2003−01/2005

01/2005−04/2008

07/2008−02/2009

 Retrobulbärneuritis (RBN)

2. Schub, Diagnose schubförmige MS (RRMS), 1−2 Schübe/Jahr

Azathioprin, 0−1 Schübe/Jahr

Interferon beta-1a 3x22 µg

Interferon beta-1a 3x44 µg, weitere Schübe, meist RBN

Natalizumab (8 Infusionen, Start EDSS 3.5), hierunter 1x RBN

Abb. 1: Bei Vorstellung großflächige Läsion

  • Liquor: JC-Virus-PCR neg. (+ Virus-Serologie) ZZ 0
  • IgG ↑
  • Bei Verdacht auf Natalizumab-assoziierte PML*
  • Therapie: 5 Zyklen Plasmapherese

* Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) ist eine selten auftretende Gehirninfektion, die durch das JC-Virus verursacht wird.

Abb. 2: Leichte Besserung

Abb. 3: Nach 2 Monaten: Ausweitung der flächigen Läsionen mit zystischen Anteilen

  • Schwere Encephalopathie
  • Amaurose beidseitig
  • Weiterhin Verdacht auf PML

Liquor: 

  • JC-Virus-PCR neg.
  • ZZ 51/µl, IgG↑, IgM↑, Laktat
  • aktivierte Lymphozyten, Plasmazellen

Abb. 4: Nach 2 Monaten

Abb. 5: Nach 2 Monaten; perlschnurartige kontrastmittelaufnehmende Herde über das gesamte Myelon

Verdacht auf opportunistische Enzephalitis (ohne Erregernachweis)

  • Antibiotische + virostatische Therapie (u. a. Ceftriaxon, Ampicillin und Aciclovir)
  • Levetiracetam bei symptomatischer Epilepsie
  • Weiterer Steroidstoß, da spinal multiple Kontrastmittel-positive Herde

Abb.6: 4 Monate nach Vorstellung: Zunahme der flächigen Marklage-Läsionen und der zystischen Defekte

  • Amaurose residual verblieben
  • Plegie rechter Arm
  • Hochgradige Parese rechtes Bein 
  • EDSS 8.5

Frage nach Diagnose: 

  • opportunistische virale Enzephalitis?
  • PML? 
  • IRIS* nach Plasmapherese?

* Das Immunrekonstitutionssyndrom, kurz IRIS, ist eine überschießende Entzündungsreaktion, die Wochen bis Monate nach Beginn einer hochaktiven antiretroviralen Therapie einsetzt.

AUFLÖSUNG FALL 1

Diagnose: NMOSD

AQP4-IgG: stark positiv
MOG-IgG: nicht bestimmt (noch nicht möglich)

Conclusio: Einige MS-Therapien, u. a. Natalizumab, können NMOSD verschlechtern, schlechter Langzeitverlauf

Fall 2

25-jährige Studentin mit progredienter ataktischer Gangstörung und Paraparese der unteren Extremitäten

Vorgeschichte

vor 10 Monaten

  • nach fieberhaftem Infekt Taubheitsgefühl in Fingern und Unterarm links

vor 8 Monaten

  • Verschwommensehen –  rechts > links
  • Kopf- und Rückenschmerzen
  • cMRT: opB
  • MRT-Halswirbelsäule: 1 Kontrastmittel+Herd
  • LP: OKB* grenzwertig, sonst opB
  • VEP** opB
  • Besserung nach Steroidpuls
  • Verdacht auf MS
  • Immuntherapie wurde abgelehnt
  • Wiederaufnahme des Studiums

vor 3 Monaten

  • neu Lhermitte

vor 2 Monaten

  • neu Nykturie
  • imperativer Harndrang
  • jeweils keine Arztvorstellung

vor 10 Monaten

vor 8 Monaten

vor 3 Monaten

vor 2 Monaten

  • nach fieberhaftem Infekt Taubheitsgefühl in Fingern und Unterarm links
  • Verschwommensehen –  rechts > links
  • Kopf- und Rückenschmerzen
  • cMRT: opB
  • MRT-Halswirbelsäule: 1 Kontrastmittel+Herd
  • LP: OKB* grenzwertig, sonst opB
  • VEP** opB
  • Besserung nach Steroidpuls
  • Verdacht auf MS
  • Immuntherapie wurde abgelehnt
  • Wiederaufnahme des Studiums
  • neu Lhermitte
  • neu Nykturie
  • imperativer Harndrang
  • jeweils keine Arztvorstellung

vor 10 Monaten

vor 8 Monaten

vor 3 Monaten

vor 2 Monaten

  • nach fieberhaftem Infekt Taubheitsgefühl in Fingern und Unterarm links
  • Verschwommensehen –  rechts > links
  • Kopf- und Rückenschmerzen
  • cMRT: opB
  • MRT-Halswirbelsäule: 1 Kontrastmittel+Herd
  • LP: OKB* grenzwertig, sonst opB
  • VEP** opB
  • Besserung nach Steroidpuls
  • Verdacht auf MS
  • Immuntherapie wurde abgelehnt
  • Wiederaufnahme des Studiums
  • neu Lhermitte
  • neu Nykturie
  • imperativer Harndrang
  • jeweils keine Arztvorstellung
Vorgeschichte

vor 10 Monaten

vor 8 Monaten

vor 3 Monaten

vor 2 Monaten

  • nach fieberhaftem Infekt Taubheitsgefühl in Fingern und Unterarm links
  • Verschwommensehen –  rechts > links
  • Kopf- und Rückenschmerzen
  • cMRT: opB
  • MRT-Halswirbelsäule: 1 Kontrastmittel+Herd
  • LP: OKB* grenzwertig, sonst opB
  • VEP** opB
  • Besserung nach Steroidpuls
  • Verdacht auf MS
  • Immuntherapie wurde abgelehnt
  • Wiederaufnahme des Studiums
  • neu Lhermitte
  • neu Nykturie
  • imperativer Harndrang
  • jeweils keine Arztvorstellung

* Oligoklonale Banden (Abkürzung: OKB) spielen in der Diagnostik des Nervenwassers eine Rolle.

** Abkürzung für "Visuell evozierte Potentiale"

 

Abb.1: Periventrikuläre Läsionen in T2

Abb.2: T1+KM

Abb.3: PD

Herd im cervikalen Myelon: kurzstreckig, ungefähr 1 cm groß

Befund: 

  • deutliche ataktische Gangstörung 
  • Hüftbeugerparese beidseitig
  • Hypästhesie untere Extremität rechts
  • EDSS 4.0

Therapie bei Verdacht auf Schub

  • 3x1g Methylprednisolon (MP)
  • Keine Verbesserung, sondern weitere Progredienz der Ataxie, ebenso unter 3x2g MP
  • EDSS 6.0

Abb.4: T1 + KM

Herd im cervikalen Myelon: kurzstreckig, ungefähr 1 cm groß

Befund: 

  • deutliche ataktische Gangstörung 
  • Hüftbeugerparese beidseitig
  • Hypästhesie untere Extremität rechts
  • EDSS 4.0

Therapie bei Verdacht auf Schub

  • 3x1g Methylprednisolon (MP)
  • Keine Verbesserung, sondern weitere Progredienz der Ataxie, ebenso unter 3x2g MP
  • EDSS 6.0
AUFLÖSUNG FALL 2

Diagnose: MS

Schubtherapie

  • 6 Zyklen Immunadsorption
  • multimodale Rehabilitation
  • Besserung der Gangqualität
  • EDSS 4.0

Immuntherapie

  • Start Ocrelizumab
  • nach 2 Jahren schubfrei
  • EDSS 4.0

AQP4-IgG: negativ
MOG-IgG: negativ

Conclusio: Auch bei MS kommen protrahierte Schübe und fehlendes Ansprechen auf Steroide vor

Die „Red Flags“ der NMOSD

Bei einer vermeintlichen MS ist es wichtig, immer auch an eine NMOSD zu denken. Eine frühzeitige Diagnose der NMOSD ist besonders entscheidend, da sie unbehandelt oder unzureichend behandelt eine ungünstigere Prognose hat als die MS. Bei der/einer NMOSD liegt nach 10 Jahren häufig eine beträchtliche Behinderung vor. Bestimmte „RedFlags“ können auf das Vorliegen einer NMOSD aufmerksam machen:1

Krankheitsbild

 

Diagnosekriterien der NMOSD 

Die Diagnose einer NMOSD wird anhand der 2015 revidierten Kriterien des International Panel for NMO Diagnosis (IPND), die in seropositive (AQP4-Ak-seropositiv) und seronegative NMOSD (AQP4-Ak-seronegativ) unterscheiden, gestellt.2 Bei der AQP4-Ak-seropositiven Form ist der Nachweis von AQP4-Ak bei Vorliegen eines der 6 klinischen Kernkriterien für die Diagnose einer NMOSD ausreichend. Für die Diagnose der seronegativen NMOSD müssen zusätzliche klinische und neuroradiologische Befunde nachgewiesen worden sein.2

Diagnostik

Zur Identifikation einer NMOSD können zusätzlich einige Kriterien, die eine Unterscheidung zwischen MS und NMOSD erlauben, herangezogen werden.  

Wichtige Differenzialdiagnosen

 

Neuroimaging Nowadays in MS

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Neuroimaging

  1. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26092914/
  2. Wingerchuk DM et al. International consensus diagnostic criteria for neuromyelitis optica spectrum disorders. Neurology 2015; 85: 177-189
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